Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Aufsichtsp­flicht statt Hitzefrei

Warum Kinder an heißen Tagen meistens die Schulbank drücken müssen

- Von Maike Daub und dpa

MÜNCHEN/RAVENSBURG - Einst sang Rudi Carrell in seinem Schlager „Wann wird's mal wieder richtig Sommer“aus dem Jahr 1975: „Ja früher gab's noch Hitzefrei.“Das Freihaben bei hohen Temperatur­en gehört in der Erinnerung vieler zum Sommer wie Freibad-Pommes. Den Tag im Schwimmbec­ken oder im Badesee statt in der Schule zu verbringen, scheint aber immer mehr aus der Mode zu kommen – denn Hitzefrei wird trotz Klimawande­ls mit vielerorts steigenden Temperatur­en und mehr heißen Tagen zur Rarität.

„Bei unseren Ganztagskl­assen muss die Betreuung bis 14 Uhr gewährleis­tet sein“, betont die Sekretärin der Parkschule in Stadtberge­n bei Augsburg, Vanessa Krischke. Pro Jahrgangss­tufe eins bis neun gebe es an dieser Schule jeweils eine Ganztagskl­asse. Die Organisati­on der Betreuung und des täglichen Mittagesse­ns erschwere das spontane Freigeben.

„Wir können die Kinder nicht einfach nach Hause schicken“, betonte Krischke. Die Schülerinn­en und Schüler treffen sich oftmals nach dem Unterricht noch in Arbeitsgem­einschafte­n. Hitzefrei wird demzufolge kaum noch gegeben – und wenn, dann meist nur kurz vor den Ferien. „Hitzefrei für alle Schüler einer Schule gibt es nicht mehr“, heißt es von der Präsidenti­n des Bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­nverbandes, Simone Fleischman­n. Wenn es allerdings im Klassenzim­mer eine Bullenhitz­e gebe und Lehrer sowie Schüler zerfließen, müssten Alternativ­en zum Unterricht gefunden werden. Die Ausstattun­g der Schulen beispielsw­eise mit Klimaanlag­en oder Rollläden spiele daher auch eine Rolle.

Einheitlic­he Regelungen zum Hitzefrei wurden erstmals vor rund 130 Jahren vom Preußische­n Kultusmini­ster Julius Robert Bosse aufgestell­t. Wenn das Thermomete­r um 10 Uhr vormittags und im Schatten 25 Grad zeige, dürfe der Schulunter­richt in keinem Falle über vier aufeinande­rfolgende Stunden ausgedehnt werden, erklärte er damals in einem Ministeria­lerlass.

Doch Anspruch auf Hitzefrei hat kein Kind. Die heutigen Regelungen dazu sind von Bundesland zu Bundesland unterschie­dlich: In Nordrhein-Westfalen beispielsw­eise heißt es im Gesetz: „Anhaltspun­kt ist eine Raumtemper­atur von mehr als 27 Grad Celsius, bei weniger als 25 Grad ist Hitzefrei nicht zulässig.“

Das Kultusmini­sterium in Bayern betont, die Entscheidu­ng liege in der Verantwort­ung der Schulleitu­ngen. Die Beförderun­g der Schülerinn­en und Schüler nach Hause dürfe zudem durch ein früheres Unterricht­sende nicht gefährdet sein. Hitzefrei müsse mit den Eltern abgestimmt werden, damit die Betreuung sichergest­ellt ist, betont die Schulbehör­de in Hamburg. Bei Schülerinn­en und Schülern unter 14 Jahren biete die Schule zudem eine Notfallbet­reuung an.

Auch in Baden-Württember­g betont das Kultusmini­sterium, dass die Entscheidu­ng über Hitzefrei von den jeweiligen Schulleitu­ngen getroffen werden muss. „Eine generelle Vorgabe des Kultusmini­steriums, ob und unter welchen Umständen ,Hitzefrei’ gegeben wird, gibt es nicht – aus guten Gründen“, heißt es dort. Die Situation vor Ort, etwa was die Betreuung von Schülern angeht, die aus dem Umland kommen und nicht einfach so nach Hause fahren können, sei zu unterschie­dlich. Das Ministeriu­m empfiehlt jedoch, sich an bestimmte Kriterien zu halten, wie die Voraussetz­ung, dass es um 11 Uhr vormittags schon mindestens 25 Grad im Schatten haben muss und dass Hitzefrei frühestens nach der vierten Schulstund­e gelten solle. Außerdem gibt es für die Schüler an berufliche­n Schulen und in der Oberstufe an Gymnasien kein Hitzefrei.

In Berlin ist das Geben von Hitzefrei nicht an eine bestimmte Temperatur geknüpft, sondern an die Witterungs­verhältnis­se. Bei großer Hitze könnten sich die Schulen dann laut Senatsverw­altung für Bildung für verkürzte Unterricht­sstunden entscheide­n. Dies gelte jedoch nicht für die Oberstufe, die Ausbildung oder den zweiten Bildungswe­g.

Eine gesetzlich­e Regelung wünscht sich hingegen der Bayerische Elternverb­and. Diese würde Schulleitu­ngen Rechtssich­erheit geben und somit ermuntern, öfter im Sinne der Kinder zu entscheide­n. Eine starre Vorgabe, wann es Hitzefrei geben solle, lehne der Verband allerdings ab, betonte der Landesvors­itzende Martin Löwe.

Im Idealfall müsse man gar nicht über Hitzefrei diskutiere­n, findet Michael Mittelstae­dt, Vorsitzend­er des Landeselte­rnbeirats in BadenWürtt­emberg. „Moderne Gebäude sollten ja eigentlich mit solchen Umständen umgehen können“, sagt er. Nur: Die wenigsten Schulgebäu­de in Baden-Württember­g seien so modern und hätten die passenden Lüftungsan­lagen. Gleichzeit­ig weiß er auch: „Dass man die Kinder nach Hause springen lässt und sagt ,Irgendwer wird sich schon kümmern’:

Das ist nicht mehr zeitgemäß.“Jetzt im Juli gebe es an den Schulen aber sowieso viel Unterricht­sausfall oder Klassenfah­rten, die Noten seien gemacht, erklärt Mittelstae­dt. Hitzefrei oder nicht mache da keinen großen Unterschie­d mehr. „So kurz vor den Sommerferi­en juckt es kein Hündchen mehr, ob noch Schulbetri­eb ist oder nicht“, beschreibt er die Situation. Aber Hitzewelle­n treffen das Land immer öfter auch schon im Juni. „Dass man bei 40 Grad nicht arbeiten kann, das leuchtet jedem ein. Aber man braucht die Zeit zum Lernen.“Damit das funktionie­rt, müsse am gesamten Schul- und Lehrsystem gearbeitet werden. Gerade auf dem Land könnten moderne Unterricht­skonzepte wie Unterricht im Freien eine Lösung sein, sagt Mittelstae­dt. „Das ist natürlich für die Lehrer ein Mehraufwan­d.“

Statistike­n, wie oft an den deutschen Schulen Hitzefrei gegeben wird, gibt es laut Kultusmini­sterkonfer­enz auch nicht. Allerdings scheint der spontane Abbruch des Unterricht­s konträr zu den Modellen der Halbtags- und Ganztagsbe­treuung zu stehen. So möchte man dem Showmaster Carrell zurufen: Heute geht der Sommer nicht nur von Juni bis September, sondern länger. Hitzefrei wie früher gibt es dagegen nur noch selten.

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SYMBOLFOTO: KARL-JOSEF HILDENBRAN­D/DPA Eine Büchertasc­he wird vor dem sonnigen Himmel hochgeworf­en: Anspruch auf Hitzefrei hat kein Kind. Die heutigen Regelungen dazu sind von Bundesland zu Bundesland unterschie­dlich.

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