Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Das neue Zauberwort heißt Flexibilität
Wie Bayern München den Abgang von Topstürmer Lewandowski kompensieren möchte – de Ligt vor Unterschrift
Basta! Eine klare Ansage, oder? Im Leben ja. Im Fußball-Business, speziell im Transferjargon, eine eher wacklige Angelegenheit. Was sich im Fall von Robert Lewandowski und dessen Natürlichdoch-noch-Wechsel zum FC Barcelona wieder einmal bewahrheitet hat. Ein Basta gilt in der Fußballrhetorik schon – aber eben nur bis auf Weiteres.
Oder bis eine „völlig andere Situation“eintritt beziehungsweise sich „die Lage grundlegend geändert“hat. So am Wochenende via „Bild“zu vernehmen aus dem Munde von Bayerns Vorstandsboss Oliver Kahn, der mit der Aussage „Basta“während der Meisterfeier der Münchner im Mai die Tür für einen Abgang des Weltklassestürmers zugemacht hatte. Damals. „Mit ,Basta’ beendet man eine Diskussion. Und genau das wollte ich zum damaligen Zeitpunkt“, rechtfertigt sich der ehemalige Nationaltorwart nun.
Der frühere „Titan“agierte also wie einst der frühere Bundeskanzler Konrad Adenauer nach dem Motto: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern? Zugute halten muss man Kahn, dass folgende zwei Parameter stimmen: Damals, vor zwei Monaten, lag weder ein Angebot für Lewandowski vor, noch hatte man offensive Alternativen in Aussicht. Die Bayern erledigten ihre Hausaufgaben mit Bravour und verpflichteten Weltklassestürmer Sadio Mané vom FC Liverpool, verlängerten den Vertrag mit dem bei allen Großclubs begehrten Serge Gnabry. So konnte man entspannt die ersten Angebote der Katalanen für Lewandowski ablehnen und damit die Ablösesumme in die Höhe zu treiben. Weil klar war: Lewandowski will unbedingt nach Barcelona
MÜNCHEN - Der König ist tot, es lebe der König. So hieß es einst in der französischen Erbmonarchie. Die Kontinuität stand stets im Vordergrund, kein langes Lamentieren. Lewandowski ist weg, es leben die Nachfolger. So könnte es beim FC Bayern dieser Tage heißen. Sinnbildliche Momente gab es davon genug zu beobachten am Samstagnachmittag vor rund 20 000 Fans in der Allianz Arena als besonders Sadio Mané und Serge Gnabry begeistert gefeiert wurden. Sie sollen, gemeinsam mit der restlichen Offensive um Thomas Müller & Co., Bayerns besten Torjäger seit Gerd Müller ersetzen.
Der Meister zelebrierte seine Saisoneröffnung. Obwohl das Sommertransferfenster noch rund sechseinhalb Wochen geöffnet hat, wollten die Verantwortlichen zumindest zwei Personalien von Schlüsselspielern des Kaders zu diesem Termin geklärt haben: Am späten Freitagabend hatte man in erneuten mündlichen Verhandlungen mit dem FC Barcelona Einigkeit über den Wechsel von FifaWeltfußballer Robert Lewandowski erzielt. Für 45 Millionen Euro Ablöse sowie bis zu fünf Millionen Euro Bonuszahlungen nimmt der 33-Jährige in Spaniens „La Liga“sein wohl letztes, so sehr ersehntes Karriereabenteuer in Angriff. Nach einem langewährenden Sommertheater hatten die Münchner ihrem Mittelstürmer ein Jahr vor Ablauf des Vertrages doch noch die Freigabe erteilt. Mit den Katalanen soll sich der Pole seit Ende Februar über einen Dreijahresvertrag inklusive Option auf ein weiteres Jahr einig gewesen sein.
Einen Durchbruch erzielten die Bayern-Bosse um Vorstandschef Oliver Kahn auch im Fall Serge Gnabry, der einen neuen, finanziell stark verbesserten Vertrag bis 2026 unterschrieb – verkündet im Stadion unter dem Jubel der Fans. Er habe eine „ganze Weile“überlegt, sagte der Flügelstürmer angesichts der monatelangen Verhandlungen, aber nun sei er sicher, dass der FC Bayern für ihn das „perfekte Setup“biete. Etwa, weil Mittelstürmer Lewandowski nun weg ist und der Verein diesen Sommer wohl keinen 1:1Ersatz verpflichten wird? Falls finanziell realisierbar, wäre Harry Kane von
Von Patrick Strasser
und Barça möchte ihn unbedingt. Ebenso geschickt wie marktüblich.
Ist Kahn wegen seiner Kehrtwende damit ein Wendehals? Bedingt. Er holte das Optimum für seinen Verein heraus, dabei in Kauf nehmend, dass ihm seine klare Ansage von damals um die Ohren fliegt. Mit der Glaubwürdigkeit und Haltbarkeit von Aussagen ist es im Ballyhoo-Business der abgehobenen Fußballwelt eben so eine Sache. Kollateralschäden bei den handelnden Personen werden akzeptiert, aber ebenso schnell auch wieder vergessen.
Kahn selbst dreht die Dinge um, sieht es so: „Aus übertriebener Sturheit oder wegen des eigenen Egos dogmatisch an etwas festzuhalten, obwohl sich die Rahmenbedingungen fundamental verändert haben, ist für mich eher ein Zeichen von Schwäche.“Damit
Tottenham Hotspur im kommenden Sommer eine Option.
Mit Lewandowski ist der erste Domino-Stein gefallen. Womöglich sah Gnabry (27) seine langfristigen Perspektiven ohne den stets gesetzten Stoßstürmer besser aufgestellt und konnte sich zum Ja-Wort gegenüber seinem Arbeitgeber durchringen. der gebürtige Stuttgarter könnte künftig öfter als zentraler Stürmer agieren. Mit seiner Schnelligkeit würde er diese Rolle allerdings – wie schon in der Nationalelf oft unter Bundestrainer Joachim Löw und seinem Nachfolger Hansi Flick praktiziert – aus einer tieferen Position heraus ausfüllen. Das neue Zauberwort der Offensive der Münchner heißt Flexibilität: Das Angriffsspiel ist nicht mehr auf Mittelstürmer Lewandowski zugeschnitten. Trainer Julian Nagelsmann gefällt das. Er kann seine Philosophie des variablen Offensivspiels ohne den Anker
hat er einen Punkt. Außerdem ist die wochenlange Posse und das ständige Hin und Her vielen Fans schon auf den Zeiger gegangen. Die unglaubliche
Lewandowski in seinem zweiten Amtsjahr an der Säbener Straße eher verwirklichen.
Dennoch wird die Tormaschine, die offensive Lebensversicherung der letzten acht Jahre, den Bayern fehlen. „Wenn du einen Stürmer verlierst, der 40 Tore schießt über mehrere Jahre, dann ist das eine große Komponente, die wegbricht“, betonte Nagelsmann. Doch das sei eine „große Chance für alle, trotzdem Bayern München strahlen zu lassen nach der Ära Lewandowski“. Nun müsse „diese Last auf mehrere Schultern“verteilt werden, betonte Sportvorstand Hasan Salihamidzic. Clubchef Kahn in voller Vorfreude: „Wenn ich der gegnerische Trainer wäre, würde ich mir Gedanken machen, wer da wo spielt. Wir haben viel Flexibilität, da kannst du für viele Überraschungsmomente beim Gegner sorgen, und darum geht es im Fußball.“ Erfolgsgeschichte der acht Jahre von Lewandowski in München erhielt einen dicken Kratzer. All die Titel und Rekorde, die den Polen zu Bayerns zweitbestem Torjäger der Vereinsgeschichte nach Gerd Müller machten, hatten jedoch nie die Kraft, ihn zum Publikumsliebling werden zu lassen. Eben, weil Lewandowski nicht nur heimlich, still und leise über Jahre von Real Madrid als seinem absoluten Traumverein schwärmte und nun – eine ironische Schleife des Fußballgottes – beim Erzrivalen der Königlichen landete: bei Barça.
Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Sepp Maier, Karl-Heinz Rummenigge, Lothar Matthäus – sie alle verließen seit den 70er-Jahren den FC Bayern und im Zuge des Abschieds wurde der Untergang des bajuwarischen Kicker-Abendlandes prophezeit. Doch stets fand sich ein Ersatz, ein neuer Held, der Tore, Titel und Rekorde garantierte. Für Trainer Julian Nagelsmann gilt nun: Entdecke die Möglichkeiten. Ohne den Platzhirschen im Sturmzentrum können sich nun andere noch mehr ins Rampenlicht spielen. Natürlich wird der FC Bayern nach der Ära des zweimaligen Weltfußballers ein anderer sein. Die übrigen Bundesliga-Clubs sollten sich allerdings keine allzu großen Hoffnungen machen, dass die Münchner nach ihren zehn Meistertiteln hintereinander auf dem Weg zur Nummer elf schwächeln werden. Aus dem Lewandowski-Abgang erwachsen Kreativität und neue Stärke.
Daher schreibe ich hier und heute: Der Meister 2023 heißt FC Bayern. Basta! Also, Stand jetzt. Bis eine völlig andere Situation eintritt oder sich die Lage grundlegend ändert …
Tatsächlich ist man dafür sehr gut aufgestellt. Als da wären: Mané, der schon in Liverpool meist über halblinks oder direkt in der Spitze agierte, plus Gnabry, dazu Tausendsassa Müller, Vorlagengeber und Vollstrecker in einer Person, das flexible Mega-Talent Jamal Musiala sowie Flügelstürmer und Dribbelsprinter Kingsley Coman. Nicht zu vergessen Leroy Sané, der nach einem Leistungstief in der Rückrunde wieder an die glänzende Hinrunde der vergangenen Saison anknüpfen will. Schließlich sind auch noch zwei echte Mittelstürmer im Kader: Routinier Eric Maxim Choupo-Moting (33) und Joshua Zirkzee (33), der letzte Saison an den RSC Anderlecht ausgeliehen war. Doch falls die Bayern das französische Stürmertalent Mathys Tel (17) von Stade Rennes loseisen können, wird mindestens einer den Verein noch verlassen – Choupo-Moting oder Zirkzee.
Ein weiteres Angebot der Bayern für Tel (im Gesamtpaket über 25 Millionen Euro schwer) soll in Vorbereitung sein. Ein weiterer Dominostein.
Durch die Ablöse für Lewandowski „haben wir natürlich auch die Möglichkeit, weiter zu schauen, was sich noch tut auf dem Transfermarkt“, betonte Kahn. Vor allem für Innenverteidiger Matthijs de Ligt (22) wollen die Bayern tief in die Tasche greifen. „Wir haben uns unterhalten“, sagte Kahn dem BR. „Der Spieler möchte zum FC Bayern kommen.“Das hat nun offenbar auch der bisherige Arbeitgeber des Niederländers akzeptiert. Wie mehrere italienische Medien am späten Sonntagabend berichteten, hat Juventus Turin das verbesserte Bayern-Angebot über 70 Millionen Euro Ablöse plus 10 Millionen Euro Bonuszahlungen akzeptiert. Das Transfer-Domino geht weiter.