Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Grün sind sie sich schon lange nicht mehr
Wie viel Boris Palmer braucht Tübingen? Nach 16 Jahren ist es auch mal genug, finden zwei Konkurrentinnen. Ende Oktober steht Deutschlands umtriebigster Oberbürgermeister zur Wiederwahl.
- Haustürwahlkampf im Tübinger Norden. Die offizielle Kandidatin der Grünen zur Oberbürgermeisterwahl geht von Tür zu Tür, Werbebroschüren in der Hand, und stellt sich vor. „Mein Name ist Ulrike Baumgärtner. Ich möchte Oberbürgermeisterin werden.“Aus einer Garageneinfahrt kommt ihr eine weißhaarige Frau entgegen. „Wie stehen die Chancen?“, fragt sie. „Sagen Sie es mir“, entgegnet die Kandidatin. Die Seniorin lächelt milde. „Seien Sie nicht zu enttäuscht. Ich bin sicher, dass der Palmer wiedergewählt wird.“
Herausforderer haben es nie leicht gegen Oberbürgermeister, die erneut zur Wahl antreten. Für Ulrike Baumgärtner gilt das besonders. Zum einen ist der Amtsinhaber der vielleicht umtriebigste Rathauschef Deutschlands, jedenfalls steht sein Bekanntheitsgrad in keinem Verhältnis zur bundespolitischen Bedeutung der 90 000-Einwohner-Stadt Tübingen. Und dann gehört er auch noch derselben Partei an.
„Die gegen Palmer“, hätten Medien nach ihrer Nominierung geschrieben, sagt Ulrike Baumgärtner. Das hört niemand gern. „Ich bin schon eine eigenständige Person.“
Die Grünen und die Oberbürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg, das war zuletzt alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Stuttgart ging an die CDU verloren, Freiburg an die SPD. In Konstanz, wo einst Horst Frank zum ersten grünen OB Deutschlands gewählt wurde, hat die Partei zuletzt nicht mal einen eigenen Kandidaten ins Rennen geschickt. Bleibt Boris Palmer in Tübingen. Und mit dem hat die Partei sich verkracht.
Wie oft Palmer seine Parteifreunde schon gegen sich aufgebracht hat, kann kaum noch jemand zählen. Mal, weil er die Bahn für eine Werbung kritisierte, die mehrere Menschen mit, aber keinen ohne Migrationshintergrund zeigte („Welche Gesellschaft soll das abbilden?“). Mal, weil er das Fehlverhalten eines Fahrradfahrers mit seiner Hautfarbe verknüpfte und mutmaßte, es müsse sich um einen Asylbewerber handeln. Dann wieder, weil er die Personalien eines Studenten, der ihm gegenüber eine abfällige Bemerkung gemacht hatte, aufnehmen wollte und sich dafür auf seinen Status als Leiter der Ortspolizeibehörde berief.
Ein neues Facebook-Scharmützel im Mai 2021 war dann eines zu viel.
Palmer verwendete im Zusammenhang mit einer Debatte über den Fußballspieler Dennis Aogo, dessen Vater Nigerianer ist, rassistische Stereotype, wenngleich als Zitat. „Das geht einfach nicht“, fand damals auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der Palmer eigentlich wohlgesonnen ist. Einem Kompromiss des Landesschiedsgerichts der Grünen folgend, ruht dessen Mitgliedschaft bis Ende 2023. Seitdem tritt Palmer im Fernsehen schon mal in einem Anzug auf, dessen Farbe er als „ruhendes Grün“bezeichnet. Der Anzug ist grau.
In Tübingen ist Palmer seit Anfang 2007 im Amt. Wird er wiedergewählt, wäre es seine dritte Amtszeit. Ob die Tübinger das möchten, ist schwer zu sagen, Umfragen wie auf Landes- oder Bundesebene gibt es in der Kommunalpolitik nicht. Politische Gegner wollen bei Palmer eine gewisse Nervosität bemerkt haben. Zwei Kandidatinnen werden Chancen zugeschrieben.
Ulrike Baumgärtner ist eine von ihnen. Sie zeigt sich als Grüne durch und durch, will städtische Kantinen mit bioregionalen Lebensmitteln bestücken und einen Fonds auflegen, der Innovation beim Klimaschutz voranbringen soll. Und sie schreibt nicht nur, sie redet sogar von „Tübinger-Innen“und „Radfahrenden“. Worte, die ein Boris Palmer wohl nie über die Lippen bringen würde. Baumgärtner ist von der Parteibasis in einem Urwahlverfahren bestimmt worden, dem Palmer sich nicht stellen wollte – wegen des Ausschlussverfahrens, wie er sagt. Weil er nicht gewählt worden wäre, wie seine Gegner sagen. Jedenfalls hat Baumgärtner das Partei-Establishment hinter sich. Die örtlichen Abgeordneten von Landtag, Bundestag und Europaparlament stehen hinter ihr, die Grüne Jugend, sogar der Bundesvorsitzende Omid Nouripour versichert seine „volle Unterstützung“. Umso peinlicher wäre es für die Partei, wenn ihre Kandidatin durchfallen würde. Und dann auch noch gegen Palmer. „Das bringt mehr Aufmerksamkeit, aber es lastet nicht auf mir“, versichert Baumgärtner im Gespräch. Sie sei bei Kommunal-, Kreisund Ortschaftsratswahl jeweils Stimmenkönigin gewesen und habe damit gezeigt, dass sie Stimmen über die Kernwählerschaft der Grünen hinaus gewinnen könne. Außerdem führt sie ihre Verwaltungserfahrung an. „Viele sagen, es geht um eine Stilfrage“, sagt sie mit Blick auf die OBWahl.
„Aber es ist ja schon mehr als das. Es geht darum, wer Tübingen gut durch die aktuelle Krisensituation bringt.“
In der Neckargasse, mitten in der Altstadt, steht an einem Wahlkampfstand die andere Frau, die Palmer beerben möchte. Sofie Geisel, Sozialdemokratin, unterstützt von FDP und Freien Wählern, setzt darauf, dass der Streit zwischen Grünen und Grünen ihre Chancen steigen lässt – zumal Palmer und Baumgärtner sich auf den gemeinsamen Wahlkampfpodien wenig schenken. „Da komme ich mir manchmal vor wie in einer Mediatorenposition“, sagt Geisel, die in Berlin als Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Deutschen Industrieund Handelskammertags tätig ist. Aufgewachsen ist sie in Ellwangen in einer sehr politischen Familie, ihr Vater Alfred Geisel war Vizepräsident des baden-württembergischen Landtags, ihr Bruder
Thomas Oberbürgermeister in Düsseldorf. „Viele sind nicht unzufrieden mit den Arbeitsinhalten des Amtsinhabers“, sagt Geisel, für die der Wechsel nach Tübingen eine Heimkehr an ihren Studienort ist. „Aber wenn er noch mal acht Jahre bekommt, dann mutieren wir zu einem kleinen Absolutismusstaat.“„Zeit für einen Wechsel“, ist der rote Faden ihres Wahlprogramms, in dem sie einen Schwerpunkt auf bezahlbaren Wohnraum legt und die Notwendigkeit von Zuwanderung allein schon aus wirtschaftlichen Gründen betont. Palmers Klimaschutzpolitik will sie weiterführen. Einem älteren Passanten, der sich über rüpelhafte Fahrradfahrer in der Altstadt beschwert, hält sie zunächst einmal entgegen, es sei ja grundsätzlich gut, wenn die Leute Rad fahren, bevor sie über eine wünschenswerte Entflechtung von Fahrrad- und Fußgängerwegen spricht.
Und der Amtsinhaber? Der war neulich wieder bei Markus Lanz. Im ZDF ging es um die Gaskrise, Atomkraftwerke, die ganz großen Fragen. Palmer sprach sich gegen Übergewinne von Energiekonzernen aus. Die entstehen, wenn Unternehmen Strom billig zum Beispiel durch Solarstrom produzieren und teuer verkaufen, weil der Strompreis vom hohen Gaspreis nach oben getrieben wird. „Ich bin gegen diese Gewinne“, sagte Palmer. Er ist selbst Aufsichtsratschef eines Energieunternehmens, das solche Einnahmen erwirtschaftet, der Stadtwerke Tübingen nämlich, die stark in Sonnenstrom investiert haben. „Wir haben ganz anders kalkuliert.“
Solche Auftritte sind es, die Boris Palmer als Marke bundesweit bekannt machen, immer wieder wird er für Talkshows angefragt. Vielleicht hätte auch der Bürgermeister von Reutlingen etwas zu erzählen bei Lanz, bei Illner oder Maischberger. Aber der ist noch nie eingeladen worden. Immerhin geht es bei Palmers jüngstem Auftritt nicht gegen die Grünen, er hat sogar ein Lob übrig für seine ruhenden Parteifreunde und speziell für Wirtschaftsminister Robert Habeck. Der sei in Sachen Atomkraft über seinen Schatten gesprungen.
Die Frage ist: Nutzt Palmer seine bundesweite Bekanntheit auch daheim? Oder haben die Tübinger inzwischen genug davon? Wollen sie, wie der Kandidat einer Spaßpartei vermutet, endlich einen Oberbürgermeister haben, „den niemand jenseits von Kirchentellinsfurt kennt“?
Jedenfalls kann niemand Palmer nachsagen, über seine bundesweiten Auftritte die kommunale Kärrnerarbeit zu vernachlässigen. An diesem Wahlkampftag erscheint Palmer in Bebenhausen, dem kleinsten Teilort Tübingens, es geht um Regeln zum Anwohnerparken und um einen Bretterhaufen, den Bauarbeiter vor dem Dorfrathaus zurückgelassen haben. „Das Letzte!“, schimpft Palmer und verspricht Abhilfe. Bebenhausen ist von einem historisch bedeutsamen Zisterzienserkloster geprägt. Das historische Ortsbild ist das Problem von einigen der Bürger, die zum Ortsrundgang mit Palmer gekommen sind: Sie wollen gern Solaranlagen auf ihren Dächern errichten, können das aber nicht, denn das ganze Dorf steht unter Ensembleschutz. Deswegen braucht es Genehmigungen aus der Stadtverwaltung, und die kommen nicht an. Hat denn Palmer nicht immer darüber gesprochen, dass es mehr Solarstrom braucht? „Hat gerade keine Priorität“, erwidert Palmer. Wie bitte? Der OB erklärt es: „Uns brennt der Kittel, wir müssen wegkommen vom Gas, und darum kümmere ich mich um die großen Anlagen.“Nicht um die Leute, die jetzt Solaranlagen auf dem Dach ihres Privathauses installieren wollen. Das seien keine Umweltschützer, die wollten nur Geld sparen. „Das ist gerade nicht mein Problem“, sagt Palmer. „Mein Problem ist, dass wir diesen Winter nicht die Industrie abschalten müssen.“
Palmer, der Krisenmanager. So hat er für sich geworben bei der offiziellen Kandidatenvorstellung der Stadt Tübingen zwei Tage zuvor: In Krisenzeiten sei es „keine gute Idee, einen erfahrenen Kapitän auszuwechseln“. Er führte Tübingens hohe Lebensqualität auch auf seine Entscheidungen der vergangenen 16 Jahre zurück und warb für das Tübinger Klimaschutzprogramm, das er bis 2030 zu Ende bringen will. „16 Jahre sind nicht genug“, so Palmer. „Es dauert länger, um das Klima zu retten.“
Keinerlei Rolle spielt bei der Wahl in Tübingen übrigens die CDU. Sie fristet in der Universitätsstadt ohnehin ein Nischendasein und stellt mit fünf Sitzen lediglich die viertgrößte Rathausfraktion. Eines ihrer prominentesten Parteimitglieder, die durch die umfassende Tübinger Corona-Teststrategie bundesweit bekannt gewordene Notärztin Lisa Federle, erteilte ihrer Partei schon im Januar eine Absage für die OB-Wahl. Auch sonst fand die Partei keinen Kandidaten. Am Ende konnte sich die Union nicht mal zu einer Empfehlung für eine Kandidatin oder einen Kandidaten durchringen und beschränkte sich auf den Appell, „keine Proteststimme“abzugeben.
Gewählt wird am 23. Oktober. Sollte es zu einem zweiten Wahlgang kommen, findet der am 13. November statt. Im Falle einer Wahlniederlage würde Sofie Geisel in Berlin beim Industrie- und Handelskammertag bleiben, Baumgärtner hat einen Job bei der Kommunalpolitischen Vereinigung der Grünen in Stuttgart. Palmer hat eine solche Sicherheit nicht, für ihn geht es am Wahltag ums Ganze. Sollte er einen Plan B nötig haben, ist eines zumindest klar: Auf Unterstützung aus seiner Partei würde er im Falle eines Falles eher nicht zählen können.