Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Vernebelte Wahrnehmung
Wohl selten in den vergangenen Jahren hatte der Tag der Arbeit die Symbolkraft wie jetzt. Mobilitätswende, Künstliche Intelligenz, Fachkräftemangel – alle Schlagworte kreisen um das Thema Arbeit. Einerseits sind die Gewerkschaften durch den Mangel an Fachkräften in einer starken Position und nutzen diese, um die höchsten Lohnabschlüsse der vergangenen Jahrzehnte zu erzielen. Auf der anderen Seite bedrohen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz Zehntausende Jobs. Da passt die Forderung nach einer Vier-TageWoche scheinbar gut in die Zeit. Doch in Wahrheit hat Deutschland andere Probleme als die Frage, ob die Work-Life-Balance bei vier Tagen Arbeit besser gelingt als mit der gängigen Fünf-TageWoche.
Der Kern der deutschen Industrie ist ohnehin bereits geschwächt als Folge einer brachial durchgesetzten Energiewende, die mit dem Abwürgen der Verbrennertechnologie und dem Abschalten wichtiger Energiequellen einhergeht. Chemiekonzerne investieren lieber in China als in ihrem Stammland. Automobilzulieferer wandern nach Osteuropa ab, wo sie bessere Investitionsbedingungen vorfinden.
Doch damit nicht genug. Auch den Vorsprung bei wichtigen Technologien für die Energiewende hat Deutschland verspielt. Chinesische Autobauer laufen uns bei der E-Mobilität den Rang ab. In der Photovoltaik-Technik war Deutschland einst führend. Mittlerweile haben chinesische Konzerne deutsche Unternehmen und deren Know-how aufgekauft. Und jetzt auch noch die Wärmepumpen. Der Verkauf des Herstellers Viessmann an einen US-Konzern ist ein Alarmzeichen. Viessmann wird vermutlich nicht der letzte Mittelständler sein, der lieber unter das Dach eines ausländischen Konzerns schlüpft, als im Wettbewerb mit asiatischen Herstellern zu unterliegen.
Der Tag der Arbeit könnte Anlass sein, die Situation zu analysieren. Die Diskussion um eine Vier-Tage-Woche vernebelt aber den Blick auf das Wesentliche. Statt sich hier einzumischen, sollte die Politik die eigenen Aufgaben in Angriff nehmen: gute Rahmenbedingungen schaffen. Damit Gewerkschaften in Zukunft noch um etwas kämpfen können.