Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Leben im Mikrokosmo­s

31 Orte in Baden-Württember­g mit eigener Verwaltung haben weniger als 500 Einwohner. Die geringe Größe hat Nachteile. Doch viele wollen ihr Dorfleben auf keinen Fall missen.

- Von Stefan Fuchs

- Genau 470 Menschen können mit Fug und Recht von sich behaupten, Dürnauer aus dem Landkreis Biberach zu sein. Sie leben in einem kleinen, von hübschen Fachwerkhä­usern geprägten Ort, nahe gelegen am Federsee. Ihr Heimatort ist eine von nur 31 der insgesamt 1101 Kommunen im Südwesten mit weniger als 500 Einwohneri­nnen und Einwohnern. Doch kommt es auf die Größe überhaupt an?

„Haben Sie die weiche Leberwurst denn eingepackt“, fragt eine ältere Kundin die Verkäuferi­n im Café „Gugelhupf“. Ihr Gesicht hat sie halb verhüllt mit einem dünnen Schal um Mund und Kinn. „Wissen Sie, ich habe doch solche Schmerzen, seit mir der Zahn rausgenomm­en wurde“, ergänzt sie. „Ja, das haben Sie ja schon erzählt. Ich wünsche Ihnen weiter viel Kraft, das wird schon wieder“, antwortet die Verkäuferi­n. Die Leberwurst ist natürlich eingepackt. Kuchen, Wurst und Seelsorge: So könnte man vielleicht einen Teil des Sortiments im „Gugelhupf“beschreibe­n.

„Wir nehmen uns natürlich die Zeit und sprechen mit den Leuten, wenn sie Sorgen haben. Man kennt sich eben in einem so kleinen Ort“, sagt Marie-Luise Müller. Sie ist Eigentümer­in des einzigen Cafés in Dürnau. „Am Anfang wurden wir belächelt. Ein Café in einem so winzigen Dorf ? Was wir da alles zu hören bekommen haben!“, sagt sie. Doch nach mittlerwei­le mehr als 20 Jahren haben sie und ihr Ehemann die Zweif ler zum Schweigen gebracht: „Es läuft“, sagt Müller. Lauf kundschaft sei zwar eine absolute Seltenheit, doch „wir haben unsere Stammkunde­n“. Die aus dem Dorf natürlich, „aber auch aus Biberach, Bad Buchau oder Bad Waldsee“.

Als „bodenständ­ig und schwäbisch“bezeichnet Müller ihr kleines Café mit insgesamt sieben Mitarbeite­rn. Das scheint anzukommen. In Windeseile füllt sich der kleine Verkaufsra­um vor dem Tresen mit hungrigen Dörflern. Die Tische im Nebenraum sind zwar am Vormittag noch leer, doch „hier treffen sich später die Stammtisch­e“. „Tatsächlic­h könnten wir noch viel mehr tun und viel mehr anbieten, wenn wir 20 Jahre jünger wären“, sagt die Café-Chefin, die nach einem Backkurs und der Eröffnung des ersten Hofladens einst ihren alten Job kündigte. „Aber es ist natürlich auch schwierig, qualifizie­rtes Personal zu finden. Deshalb bleiben wir lieber klein und regional.“

Marie-Luise Müller hat Zeiten erlebt, in denen fast jeder im Dorf Landwirt war, doch das ist lang vorbei. „Mittlerwei­le gibt es vielleicht noch zwei oder drei Bauern hier. Die meisten anderen arbeiten auswärts.“Auch der Weg zum Einkaufen oder zum Arzt führt über die Landstraße­n nach Biberach oder Bad Buchau, nach Riedlingen oder Bad Waldsee. Im „Gugelhupf“gibt es zwar die Hefe für den Notfall oder auch mal einen Becher Sahne oder Eier, aber für den Wocheneink­auf reicht das Angebot nicht aus.

Dürnau hat sich also gewandelt: vom Bauerndorf zum Wohndorf. Einer, der diesen Wandel eng begleitet, ist Bernhard Merk . Und der möchte nicht tauschen. „Auf keinen Fall“, sagt er. Ein Amt in einer anderen, einer größeren Gemeinde wie Ravensburg oder Biberach möchte sich der parteilose Dürnauer Bürgermeis­ter gar nicht vorstellen. Wenn es in einem Ort wie Dürnau überhaupt ein Zentrum geben kann, dann ist es hier, wo er sein Büro hat: Das Rathaus mit den weinroten Fensterläd­en thront auf einer kleinen Anhöhe, den Hang hinab geht es direkt zum „Gugelhupf“, darunter schmiegt sich die Bushaltest­elle an die Straße.

„Wir können hier noch echte Bürgernähe bieten“, sagt Merk. Wenn jemand ein Anliegen habe, dann spreche er ihn eben auf der Straße an oder beim Brötchenho­len. Dass das kleine Dürnau überhaupt einen Bürgermeis­ter hat, liegt an der Geschichte des Ortes.

Im Zuge der Kreisrefor­m 1973 wurde er dem Kreis Biberach zugeschlag­en. „Die Gemeinden am Federsee wurden mit Bad Buchau zusammenge­schlossen“, erläutert Merk. Seither gebe es zwar einen gemeinsame­n Kämmerer, doch in allen anderen Bereichen agierten die Mitgliedsg­emeinden selbststän­dig. „Und das ist auch gut so“, betont der Bürgermeis­ter. Neben Dürnau haben auch die Gemeinden Moosburg und Seekirch am Federsee weniger als 500 Einwohner. Andere Orte auf der Unter-500-Liste sind etwa Guggenhaus­en bei Ravensburg, Holzkirch im Alb-Donau-Kreis oder Dautmergen im Zollernalb­kreis.

Dass die Aufgaben für die Bürgermeis­ter solcher Kommunen vielfältig sind, ist für Merk eine schöne Herausford­erung. „Ich bin quasi Ordnungsam­t, Einwohnerm­eldeamt und Baubehörde in einer Person, Ressorts wie in größeren Gemeinden gibt es nicht. Das bedeutet aber auch, dass ein Bürgermeis­ter gemeinsam mit seinem Gemeindera­t schnell und effektiv handeln kann.“So habe man beispielsw­eise die Ausstattun­g des Rathauses mit einer Photovolta­ikanlage und Speichern innerhalb eines halben Jahres bewerkstel­ligt – oder im zehnköpfig­en Gemeindera­t nach dem Interesse eines Investors unkomplizi­ert geeignete Flächen für einen geplanten Windpark gefunden. Auch die Gründung einer zweiten Kindergart­engruppe sei „ohne große Hürden“vonstatten­gegangen. „Außerdem bekommen wir hier direktes Feedback von den Bürgerinne­n und Bürgern – ob positiv oder negativ. Das schafft ein gutes Umfeld“, sagt Merk. „Nichts ist wertvoller als der persönlich­e Kontakt.“

Dass auf dem Dorf die Arbeitsplä­tze begrenzt sind, ist laut Bürgermeis­ter kein großer Nachteil: „Wir können hier dafür das Landleben genießen. Es gibt natürlich einen großen Pendelverk­ehr abends und morgens, aber durch die Digitalisi­erung können viele heute auch von zu Hause aus arbeiten.“

Sollte einmal ein Großkonzer­n im Dorf anklopfen und nach Gewerbeflä­che fragen, müsse man das „sehr genau prüfen“. „Natürlich würden die Gewerbeste­uern steigen, aber einerseits gibt es komplizier­te rechtliche Vorgaben für die Vergabe von Flächen, anderersei­ts käme eine Umsetzung ohnehin nur infrage, wenn Bürgerinne­n und Bürger das mittragen. In einem kleinen Ort geht es immer darum, den größten gemeinsame­n Nenner aller Beteiligte­n zu finden.“Geht es nach dem Bürgermeis­ter, sollten lieber kleine Firmen angesiedel­t werden.

Muss, soll, will Dürnau also überhaupt über die 500-Einwohner-Marke hinaus? „Nein, ganz im Gegenteil. Es müssen auch künftig Kleinstgem­einden ihre Daseinsber­echtigung haben“, sagt Merk. Ein derzeit entstehend­es Entwicklun­gskonzept für den Ort sehe deshalb eher vor, schon bestehende Gebäude im Ortskern neu zu nutzen, anstatt in die Breite zu wachsen.

Der Bürgermeis­ter räumt allerdings ein, dass die Abgeschied­enheit auch die Notwendigk­eit zu Kompromiss­en mit sich bringt. „Wer hier lebt, braucht ein Auto“, sagt er. Eine Busverbind­ung gibt es zwar, doch gerade in Ferienzeit­en hält der Bus nur wenige Male am Tag, die letzte Fahrt nach Riedlingen startet um 18.33 Uhr. Das könne durchaus einmal ärgerlich sein, allerdings fehle für mehr Verbindung­en die Nachfrage für einen lohnenden Betrieb. „Dass es beim ÖPNV Probleme gibt, erkennen wir natürlich. Aber das hat eine andere Qualität als in einer Stadt. Der Bedarf hier ist vorrangig, dass die Kinder in die Schulen kommen – und den bedienen wir ganz gut. Für alles andere müssen wir in Zukunft Alternativ­en prüfen“, sagt Merk und verweist auf Beispiele aus anderen Gemeinden, in denen Rufbusse oder Sammeltaxi­s zur Verfügung stehen.

Das ÖPNV-Problem in Dürnau steht stellvertr­etend für die Herausford­erungen im ländlichen Raum Baden-Württember­gs. Immerhin 40 Prozent der SüdwestBev­ölkerung gaben in einer aktuellen BaWü-Check-Umfrage an, dass es zu wenige Verbindung­en im öffentlich­en Nahverkehr gebe, jeder Zweite, dass ländliche Regionen ganz allgemein schlecht angebunden seien.

Alexander Reisiger sieht darin kein großes Problem. „Hier fahren eben auch einmal die Jungen die Alten zum Einkaufen“, sagt er. Und: „Dürnau muss nicht wachsen.“Reisiger ist Chef der

Musikkapel­le Dürnau und Inhaber eines Hausmeiste­rserviceun­ternehmens. In seinem Büro klingelt durchgehen­d das Telefon – ein gefragter Mann im kleinen Dorf. „Ich glaube nicht, dass eine schnelle Vergrößeru­ng für die Dorfgemein­schaft förderlich wäre“, sagt er. Etwas mehr Gewerbe würde aus seiner Sicht zwar nicht schaden, aber: „Ein Weltkonzer­n würde das Dorf zerstören“, ist er sich sicher. Reisiger ist Teil der alternativ­en „Kooperativ­e Dürnau“. In den späten 1970ern siedelte diese sich in Dürnau an, seither kaufte man Immobilien und gründete unter anderem eine Gärtnerei, einen Verlag und eine Druckerei. „Die wollten damals raus aufs ruhige Land ziehen“, sagt Reisiger. Er selbst, Jahrgang 1981, ist im Ort geboren und aufgewachs­en. „Am Anfang gab es Skepsis, doch unsere Kooperativ­e kam bereits mit Maschinen an. Die Leute haben gesehen: Die sind nicht gekommen, um herumzusit­zen und Tüten zu rauchen, die wollen arbeiten.“

Auch heute gebe es noch Menschen, die der Kooperativ­e argwöhnisc­h gegenübers­tünden, doch: „Ich bin seit mehr als 16 Jahren Leiter der Musikkapel­le. Das sagt doch viel über die Integratio­n“, sagt er. Die Kapelle zählt derzeit etwa 35 aktive Mitglieder, zu Reisigers Anfangszei­ten waren es noch um die 50. „Es gab zwei Leute, die aus persönlich­en Gründen aufgehört haben, der Rest hat den Ort peu à peu verlassen, um etwa studieren zu gehen.“Die Mitglieder­suche sei in einem kleinen Dorf natürlich schwierig, räumt der Musikkapel­lenleiter ein, doch er betont: „Das geht den Vereinen überall so. Die Jugendarbe­it ist in Zeiten von Internet und Handys insgesamt schwierige­r geworden.“Potenzial ist aber auch in Dürnau vorhanden, immerhin 82 der 470 Einwohner sind unter zwölf Jahre alt.

Daran, dass es die Jugend nicht permanent aus Dürnau hinauszieh­t, ist auch Moritz Widder interessie­rt. Er leitet das Jugendzent­rum, das im Rathausgeb­äude liegt. „Montags können sich hier die ganz jungen treffen und zum Beispiel Spiele spielen. Ab Mitte der Woche haben wir dann für die älteren Jugendlich­en geöffnet. Nach der Probe kommen gerne auch Mitglieder der Musikkapel­le hierher“, sagt er. Mehrmals im Jahr organisier­t das Jugendzent­rum außerdem größere Feste. Die Jugendarbe­it hat in Dürnau Tradition, 1978 wurde das Zentrum gegründet, seit einigen Jahren verwaltet die Dorfjugend es selbst.

Moritz Widder vermisst nach eigenem Bekunden auch im Nachtleben nichts. „Wir kommen überallhin, wo wir hinwollen – und auch sicher wieder zurück“, sagt er. Ein örtliches Taxiuntern­ehmen bietet dafür Fahrten im Großraumta­xi an. „Wenn wir nicht auswärts feiern wollen, finden wir hier immer ein ruhiges Plätzchen zum Grillen“, sagt Widder. Er sieht vielmehr die Vorteile des kleinen Orts: „Hier kennt jeder jeden, wir helfen uns vor Ort und die Gemeinscha­ft ist stärker als in einer großen Stadt.“

 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? FOTOS: GEMEINDE DÜRNAU (OBEN), STEFAN FUCHS, KARL-HEINZ KLEINAU (RECHTS UNTEN) ?? Der Bus hält besonders an schulfreie­n Tagen nur wenige Male im kleinen Dürnau – die Musikkapel­le mit 35 aktiven Mitglieder­n ist dennoch umtriebig, etwa beim Fronleichn­amsfest.
FOTOS: GEMEINDE DÜRNAU (OBEN), STEFAN FUCHS, KARL-HEINZ KLEINAU (RECHTS UNTEN) Der Bus hält besonders an schulfreie­n Tagen nur wenige Male im kleinen Dürnau – die Musikkapel­le mit 35 aktiven Mitglieder­n ist dennoch umtriebig, etwa beim Fronleichn­amsfest.
 ?? FOTO: GEMEINDE DÜRNAU ?? Bernhard Merk ist seit 2014 Bürgermeis­ter in Dürnau.
FOTO: GEMEINDE DÜRNAU Bernhard Merk ist seit 2014 Bürgermeis­ter in Dürnau.

Newspapers in German

Newspapers from Germany