Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Leben im Mikrokosmos
31 Orte in Baden-Württemberg mit eigener Verwaltung haben weniger als 500 Einwohner. Die geringe Größe hat Nachteile. Doch viele wollen ihr Dorfleben auf keinen Fall missen.
- Genau 470 Menschen können mit Fug und Recht von sich behaupten, Dürnauer aus dem Landkreis Biberach zu sein. Sie leben in einem kleinen, von hübschen Fachwerkhäusern geprägten Ort, nahe gelegen am Federsee. Ihr Heimatort ist eine von nur 31 der insgesamt 1101 Kommunen im Südwesten mit weniger als 500 Einwohnerinnen und Einwohnern. Doch kommt es auf die Größe überhaupt an?
„Haben Sie die weiche Leberwurst denn eingepackt“, fragt eine ältere Kundin die Verkäuferin im Café „Gugelhupf“. Ihr Gesicht hat sie halb verhüllt mit einem dünnen Schal um Mund und Kinn. „Wissen Sie, ich habe doch solche Schmerzen, seit mir der Zahn rausgenommen wurde“, ergänzt sie. „Ja, das haben Sie ja schon erzählt. Ich wünsche Ihnen weiter viel Kraft, das wird schon wieder“, antwortet die Verkäuferin. Die Leberwurst ist natürlich eingepackt. Kuchen, Wurst und Seelsorge: So könnte man vielleicht einen Teil des Sortiments im „Gugelhupf“beschreiben.
„Wir nehmen uns natürlich die Zeit und sprechen mit den Leuten, wenn sie Sorgen haben. Man kennt sich eben in einem so kleinen Ort“, sagt Marie-Luise Müller. Sie ist Eigentümerin des einzigen Cafés in Dürnau. „Am Anfang wurden wir belächelt. Ein Café in einem so winzigen Dorf ? Was wir da alles zu hören bekommen haben!“, sagt sie. Doch nach mittlerweile mehr als 20 Jahren haben sie und ihr Ehemann die Zweif ler zum Schweigen gebracht: „Es läuft“, sagt Müller. Lauf kundschaft sei zwar eine absolute Seltenheit, doch „wir haben unsere Stammkunden“. Die aus dem Dorf natürlich, „aber auch aus Biberach, Bad Buchau oder Bad Waldsee“.
Als „bodenständig und schwäbisch“bezeichnet Müller ihr kleines Café mit insgesamt sieben Mitarbeitern. Das scheint anzukommen. In Windeseile füllt sich der kleine Verkaufsraum vor dem Tresen mit hungrigen Dörflern. Die Tische im Nebenraum sind zwar am Vormittag noch leer, doch „hier treffen sich später die Stammtische“. „Tatsächlich könnten wir noch viel mehr tun und viel mehr anbieten, wenn wir 20 Jahre jünger wären“, sagt die Café-Chefin, die nach einem Backkurs und der Eröffnung des ersten Hofladens einst ihren alten Job kündigte. „Aber es ist natürlich auch schwierig, qualifiziertes Personal zu finden. Deshalb bleiben wir lieber klein und regional.“
Marie-Luise Müller hat Zeiten erlebt, in denen fast jeder im Dorf Landwirt war, doch das ist lang vorbei. „Mittlerweile gibt es vielleicht noch zwei oder drei Bauern hier. Die meisten anderen arbeiten auswärts.“Auch der Weg zum Einkaufen oder zum Arzt führt über die Landstraßen nach Biberach oder Bad Buchau, nach Riedlingen oder Bad Waldsee. Im „Gugelhupf“gibt es zwar die Hefe für den Notfall oder auch mal einen Becher Sahne oder Eier, aber für den Wocheneinkauf reicht das Angebot nicht aus.
Dürnau hat sich also gewandelt: vom Bauerndorf zum Wohndorf. Einer, der diesen Wandel eng begleitet, ist Bernhard Merk . Und der möchte nicht tauschen. „Auf keinen Fall“, sagt er. Ein Amt in einer anderen, einer größeren Gemeinde wie Ravensburg oder Biberach möchte sich der parteilose Dürnauer Bürgermeister gar nicht vorstellen. Wenn es in einem Ort wie Dürnau überhaupt ein Zentrum geben kann, dann ist es hier, wo er sein Büro hat: Das Rathaus mit den weinroten Fensterläden thront auf einer kleinen Anhöhe, den Hang hinab geht es direkt zum „Gugelhupf“, darunter schmiegt sich die Bushaltestelle an die Straße.
„Wir können hier noch echte Bürgernähe bieten“, sagt Merk. Wenn jemand ein Anliegen habe, dann spreche er ihn eben auf der Straße an oder beim Brötchenholen. Dass das kleine Dürnau überhaupt einen Bürgermeister hat, liegt an der Geschichte des Ortes.
Im Zuge der Kreisreform 1973 wurde er dem Kreis Biberach zugeschlagen. „Die Gemeinden am Federsee wurden mit Bad Buchau zusammengeschlossen“, erläutert Merk. Seither gebe es zwar einen gemeinsamen Kämmerer, doch in allen anderen Bereichen agierten die Mitgliedsgemeinden selbstständig. „Und das ist auch gut so“, betont der Bürgermeister. Neben Dürnau haben auch die Gemeinden Moosburg und Seekirch am Federsee weniger als 500 Einwohner. Andere Orte auf der Unter-500-Liste sind etwa Guggenhausen bei Ravensburg, Holzkirch im Alb-Donau-Kreis oder Dautmergen im Zollernalbkreis.
Dass die Aufgaben für die Bürgermeister solcher Kommunen vielfältig sind, ist für Merk eine schöne Herausforderung. „Ich bin quasi Ordnungsamt, Einwohnermeldeamt und Baubehörde in einer Person, Ressorts wie in größeren Gemeinden gibt es nicht. Das bedeutet aber auch, dass ein Bürgermeister gemeinsam mit seinem Gemeinderat schnell und effektiv handeln kann.“So habe man beispielsweise die Ausstattung des Rathauses mit einer Photovoltaikanlage und Speichern innerhalb eines halben Jahres bewerkstelligt – oder im zehnköpfigen Gemeinderat nach dem Interesse eines Investors unkompliziert geeignete Flächen für einen geplanten Windpark gefunden. Auch die Gründung einer zweiten Kindergartengruppe sei „ohne große Hürden“vonstattengegangen. „Außerdem bekommen wir hier direktes Feedback von den Bürgerinnen und Bürgern – ob positiv oder negativ. Das schafft ein gutes Umfeld“, sagt Merk. „Nichts ist wertvoller als der persönliche Kontakt.“
Dass auf dem Dorf die Arbeitsplätze begrenzt sind, ist laut Bürgermeister kein großer Nachteil: „Wir können hier dafür das Landleben genießen. Es gibt natürlich einen großen Pendelverkehr abends und morgens, aber durch die Digitalisierung können viele heute auch von zu Hause aus arbeiten.“
Sollte einmal ein Großkonzern im Dorf anklopfen und nach Gewerbefläche fragen, müsse man das „sehr genau prüfen“. „Natürlich würden die Gewerbesteuern steigen, aber einerseits gibt es komplizierte rechtliche Vorgaben für die Vergabe von Flächen, andererseits käme eine Umsetzung ohnehin nur infrage, wenn Bürgerinnen und Bürger das mittragen. In einem kleinen Ort geht es immer darum, den größten gemeinsamen Nenner aller Beteiligten zu finden.“Geht es nach dem Bürgermeister, sollten lieber kleine Firmen angesiedelt werden.
Muss, soll, will Dürnau also überhaupt über die 500-Einwohner-Marke hinaus? „Nein, ganz im Gegenteil. Es müssen auch künftig Kleinstgemeinden ihre Daseinsberechtigung haben“, sagt Merk. Ein derzeit entstehendes Entwicklungskonzept für den Ort sehe deshalb eher vor, schon bestehende Gebäude im Ortskern neu zu nutzen, anstatt in die Breite zu wachsen.
Der Bürgermeister räumt allerdings ein, dass die Abgeschiedenheit auch die Notwendigkeit zu Kompromissen mit sich bringt. „Wer hier lebt, braucht ein Auto“, sagt er. Eine Busverbindung gibt es zwar, doch gerade in Ferienzeiten hält der Bus nur wenige Male am Tag, die letzte Fahrt nach Riedlingen startet um 18.33 Uhr. Das könne durchaus einmal ärgerlich sein, allerdings fehle für mehr Verbindungen die Nachfrage für einen lohnenden Betrieb. „Dass es beim ÖPNV Probleme gibt, erkennen wir natürlich. Aber das hat eine andere Qualität als in einer Stadt. Der Bedarf hier ist vorrangig, dass die Kinder in die Schulen kommen – und den bedienen wir ganz gut. Für alles andere müssen wir in Zukunft Alternativen prüfen“, sagt Merk und verweist auf Beispiele aus anderen Gemeinden, in denen Rufbusse oder Sammeltaxis zur Verfügung stehen.
Das ÖPNV-Problem in Dürnau steht stellvertretend für die Herausforderungen im ländlichen Raum Baden-Württembergs. Immerhin 40 Prozent der SüdwestBevölkerung gaben in einer aktuellen BaWü-Check-Umfrage an, dass es zu wenige Verbindungen im öffentlichen Nahverkehr gebe, jeder Zweite, dass ländliche Regionen ganz allgemein schlecht angebunden seien.
Alexander Reisiger sieht darin kein großes Problem. „Hier fahren eben auch einmal die Jungen die Alten zum Einkaufen“, sagt er. Und: „Dürnau muss nicht wachsen.“Reisiger ist Chef der
Musikkapelle Dürnau und Inhaber eines Hausmeisterserviceunternehmens. In seinem Büro klingelt durchgehend das Telefon – ein gefragter Mann im kleinen Dorf. „Ich glaube nicht, dass eine schnelle Vergrößerung für die Dorfgemeinschaft förderlich wäre“, sagt er. Etwas mehr Gewerbe würde aus seiner Sicht zwar nicht schaden, aber: „Ein Weltkonzern würde das Dorf zerstören“, ist er sich sicher. Reisiger ist Teil der alternativen „Kooperative Dürnau“. In den späten 1970ern siedelte diese sich in Dürnau an, seither kaufte man Immobilien und gründete unter anderem eine Gärtnerei, einen Verlag und eine Druckerei. „Die wollten damals raus aufs ruhige Land ziehen“, sagt Reisiger. Er selbst, Jahrgang 1981, ist im Ort geboren und aufgewachsen. „Am Anfang gab es Skepsis, doch unsere Kooperative kam bereits mit Maschinen an. Die Leute haben gesehen: Die sind nicht gekommen, um herumzusitzen und Tüten zu rauchen, die wollen arbeiten.“
Auch heute gebe es noch Menschen, die der Kooperative argwöhnisch gegenüberstünden, doch: „Ich bin seit mehr als 16 Jahren Leiter der Musikkapelle. Das sagt doch viel über die Integration“, sagt er. Die Kapelle zählt derzeit etwa 35 aktive Mitglieder, zu Reisigers Anfangszeiten waren es noch um die 50. „Es gab zwei Leute, die aus persönlichen Gründen aufgehört haben, der Rest hat den Ort peu à peu verlassen, um etwa studieren zu gehen.“Die Mitgliedersuche sei in einem kleinen Dorf natürlich schwierig, räumt der Musikkapellenleiter ein, doch er betont: „Das geht den Vereinen überall so. Die Jugendarbeit ist in Zeiten von Internet und Handys insgesamt schwieriger geworden.“Potenzial ist aber auch in Dürnau vorhanden, immerhin 82 der 470 Einwohner sind unter zwölf Jahre alt.
Daran, dass es die Jugend nicht permanent aus Dürnau hinauszieht, ist auch Moritz Widder interessiert. Er leitet das Jugendzentrum, das im Rathausgebäude liegt. „Montags können sich hier die ganz jungen treffen und zum Beispiel Spiele spielen. Ab Mitte der Woche haben wir dann für die älteren Jugendlichen geöffnet. Nach der Probe kommen gerne auch Mitglieder der Musikkapelle hierher“, sagt er. Mehrmals im Jahr organisiert das Jugendzentrum außerdem größere Feste. Die Jugendarbeit hat in Dürnau Tradition, 1978 wurde das Zentrum gegründet, seit einigen Jahren verwaltet die Dorfjugend es selbst.
Moritz Widder vermisst nach eigenem Bekunden auch im Nachtleben nichts. „Wir kommen überallhin, wo wir hinwollen – und auch sicher wieder zurück“, sagt er. Ein örtliches Taxiunternehmen bietet dafür Fahrten im Großraumtaxi an. „Wenn wir nicht auswärts feiern wollen, finden wir hier immer ein ruhiges Plätzchen zum Grillen“, sagt Widder. Er sieht vielmehr die Vorteile des kleinen Orts: „Hier kennt jeder jeden, wir helfen uns vor Ort und die Gemeinschaft ist stärker als in einer großen Stadt.“