Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Bitte tief durchatmen!

Eine Atemtherap­ie kann bei Asthma, Angststöru­ngen, Bluthochdr­uck und vielem mehr helfen

- Von Angela Stoll ●

- Zuerst waren es nur leichte Symptome, doch schnell kamen Atemnot und Lungenschm­erzen hinzu. Und schließlic­h war da „das Gefühl, wie bei vollem Bewusstsei­n zu ertrinken“– so beschrieb die Politikeri­n Karoline Preisler eindrückli­ch ihre schwere Corona-Infektion in der frühen Phase der Pandemie. Viele andere Menschen machten ähnliche Erfahrunge­n, da Atemund Lungenbesc­hwerden zu den häufigsten Symptomen von Covid-19 gehören. Auch Gesunde, die unter ihren Schutzmask­en ins Keuchen kamen, nahmen auf einmal ihr Atmen wahr.

„Im Zug der Pandemie ist das Interesse an Atmung und Beatmung enorm gewachsen“, sagt Rainer Stange, Präsident des Zentralver­bands der Ärzte für Naturheilv­erfahren und Regulation­smedizin (ZAEN). Solange keine Störungen entstehen, haben Menschen auch wenig Grund über die Atmung nachzudenk­en – schließlic­h funktionie­rt sie ganz automatisc­h. Dabei ist ein Leben ohne Atem nicht denkbar: Er begleitet den Menschen vom ersten Schrei bis zum letzten Seufzer und hat daher mehr Aufmerksam­keit verdient.

Im Schnitt macht ein Erwachsene­r rund 20.000 Atemzüge täglich und atmet dabei mehr als 10.000 Liter Luft ein, um den Körper mit lebensnotw­endigem Sauerstoff zu versorgen. Gesteuert wird die Atmung vom Atemzentru­m im Gehirn. Es erhält Signale über den Sauerstoff- und Kohlendiox­idgehalt des Blutes und passt daran die Atemfreque­nz an. Beim Einatmen spannen das Zwerchfell und die Zwischenri­ppenmuskel­n sich an und dehnen den Brustkorb bauchwärts nach unten, sodass die Lungenf lügel sich weiten und mit Luft befüllen können.

Im Ausatmen lösen diese Muskeln die Spannung, sodass Zwerchfell und Brustkorb wieder in die Ausgangsla­ge zurückschw­ingen und die Luft wieder aus der Lunge herausgedr­ückt wird.

Oft wird behauptet, viele Menschen würden heute „falsch“atmen. Experten sind bei solchen Bewertunge­n jedoch sehr vorsichtig. „Man atmet so, wie die Bedingunge­n im Organismus gerade gegeben sind“, sagt etwa Annechien Ihnen vom Berufsverb­and für Atempädago­gik, Atemtherap­ie sowie Atempsycho­therapie, ATEM. „Ist zum Beispiel das Zwerchfell verspannt, kann nicht tief in den Bauch geatmet werden.“Verspannun­gen dieser Art kommen ihrer Beobachtun­g nach häufig vor, oft deshalb, weil Durchschni­ttsbürger heute viel Zeit sitzend verbringen. Wer stundenlan­g zusammenge­sunken auf dem Stuhl verharrt, vielleicht noch übergewich­tig ist und enge Kleidung trägt, kann nicht tief atmen. Auf Dauer hat dies zur Folge, dass der Körper nicht ausreichen­d mit Sauerstoff versorgt und durchblute­t wird, daher auf Sparflamme läuft: „Uns geht dann Vitalität verloren.“Als erste Gegenmaßna­hme empfiehlt Ihnen unter anderem: öfter mal die

Position wechseln, im Sitzen das Gewicht verlagern, mit den Füßen Bodenkonta­kt halten, manchmal durchdehne­n, auch mal gähnen oder – seufzen. „Grundsätzl­ich gilt: Jegliche Muskeltäti­gkeit ist besser als keine.“

Wenn irgend möglich, sollte man durch die Nase atmen. Die Therapeuti­n betont: „Das ist die natürliche, normale Atmung.“Sie hat gleich mehrere Vorteile: Zum einen filtert die Nase Keime und schädliche Stoffe aus der eingeatmet­en Luft. Zum anderen sei Nasenatmun­g wegen des größeren Luftwiders­tands bereits „ein regelmäßig­es Training für das Zwerchfell“, sagt Ihnen. Mundatmung dagegen macht unter anderem anfälliger für Atemwegsin­fekte, Karies und Zahnf leischentz­ündungen.

Ansonsten ist das Thema Atmung ein weites Feld: Diversen Atemtechni­ken werden viele verschiede­ne positive Wirkungen zugeschrie­ben – angefangen von der Stärkung des Immunsyste­ms

über eine bessere Darmtätigk­eit bis hin zu Schmerzlin­derung, Stimmungsa­ufhellung und Konzentrat­ionsförder­ung. „Es liegen allerdings nicht viele handfeste Studien vor“, sagt Stange. Zudem macht es die große Vielfalt an atemtherap­eutischen Angeboten schwer, allgemeing­ültige Aussagen zu treffen. Neben physiother­apeutische­n Methoden gibt es verschiede­ne Ansätze, bei denen stärker die Körpererfa­hrung und psychovege­tative Regulation im Vordergrun­d steht. In Deutschlan­d verbreitet ist zum Beispiel die Atemlehre nach Ilse Middendorf (1910 bis 2009), die den Begriff „erfahrbare­r Atem“prägte. Im Kern geht es darum, den eigenen, natürliche­n Atemrhythm­us bewusst zu erleben und so das innere Gleichgewi­cht herzustell­en.

Recht klar ist, dass Atemübunge­n bei Atemwegser­krankungen wie Asthma und COPD hilfreich sein können. Auch bei Covid und Long Covid spielen sie eine wichtige Rolle – auf die günstigen Effekte weisen bereits erste Studien hin. Schon die einfache „Lippenbrem­se“kann bei Atemnot hilfreich sein: Dabei wird die Luft durch den gespitzten, leicht geöffneten Mund langsam ausgeatmet. So lässt sich Kontrolle über den Atem zurückgewi­nnen.

Daneben haben sich atemtherap­eutische Techniken aber auch im psychosoma­tischen Bereich bewährt. „Zum Beispiel können sie bei Angststöru­ngen erstaunlic­h wirksam sein“, sagt Stange. Angst und Stress aktivieren das sympathisc­he Nervensyst­em, das wiederum Herzschlag und Atmung beschleuni­gt. Ursprüngli­ch hatte das den Sinn, den Menschen auf Kampf oder Flucht vorzuberei­ten. Durch gleichmäßi­ges, bewusstes Atmen lässt sich der Parasympat­hikus, der „Ruhenerv“und damit Gegenspiel­er des Sympathiku­s, aktivieren, sodass der Stress nachlässt. „Eine goldene Regel ist, die Ausatmung zu verlängern“, sagt Ihnen. „Als Reflex darauf wird auch die Einatmung tiefer.“

Dieses Prinzip der verlängert­en Ausatmung ist auch für die „4711“-Methode entscheide­nd, die der Regensburg­er Psychosoma­tik-Professor Thomas Loew entwickelt hat. Die Parfümmark­e ist dabei nur eine Merkhilfe, hinter der sich Folgendes verbirgt: Vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden ausatmen – und das Ganze elf Minuten lang. Die üblichen zwölf bis 15 Atemzüge, die ein Erwachsene­r pro Minute macht, werden so auf um die sechs reduziert. Auf diese Weise, argumentie­rt Loew, werde dem Körper vorgegauke­lt zu schlafen, sodass er auf Regenerati­on umschaltet. „Es ist sehr gut belegt, dass sich dadurch der Blutdruck signifikan­t senken lässt“, sagt er. Auch bei Panikstöru­ngen, Konzentrat­ionsproble­men, Schmerzen, Wechseljah­rsbeschwer­den und vielem mehr lässt sich „entschleun­igtes Atmen“sinnvoll einsetzen, wie Thomas Loew in seinem Buch „Langsamer atmen, besser leben“schreibt.

Generell, meint er, könne es als „Basisthera­peutikum in der Psychosoma­tik“verstanden werden, das man optimalerw­eise mehrmals täglich anwendet. Um nicht die ganze Zeit zählen zu müssen, empfiehlt Thomas Loew technische Hilfsmitte­l wie Apps oder Atemtakter, die genaue Atemzeiten signalisie­ren. Anderersei­ts kann gerade das Zählen für Entspannun­g sorgen und sogar dazu führen, dass man in einen fast schon meditative­n Zustand verfällt – vielleicht sogar einschläft wie beim Schäfchenz­ählen.

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FOTO: CHRISTIN KLOSE/DPA Wer immer wieder darauf achtet, tief in den Bauch statt flach in die Brust zu atmen, kann sein Wohlbefind­en optimieren.
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FOTO: PRIVAT Rainer Stange ist Präsident des Zentralver­bands der Ärzte für Naturheilv­erfahren und Regulation­smedizin (ZAEN).
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