Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Der Große Drache steigt auf
Ding Liren krönt sich zum ersten chinesischen Weltmeister im Spiel der Könige und erfüllt damit einen Plan
(SID) - Im Moment seines Triumphes sah Ding Liren nicht aus wie der Große Drache, den er hätte verkörpern sollen. Er sah nicht einmal aus wie der Sieger der Schach-WM, der er zweifelsfrei war. In sich zusammengesunken, den Kopf von seiner Hand gestützt, verharrte Ding nach dem dramatischen Tiebreak-Erfolg am Tisch. Als hätte die Last der Geschichte seinen Jubel unterdrückt.
Mit seinem Sieg über den Russen Jan Nepomnjaschtschi vollbrachte Ding Historisches, der 30Jährige erfüllte einen Staatsplan, der älter war als er selbst: Als erster Chinese krönte er sich zum Weltmeister im Spiel der Könige, das in seiner Heimat einst verboten war, heute aber mehr Prestige denn je besitzt. Sein Erfolg steht für
eine Strategie der Volksrepublik, die über das Brett hinausreicht.
Ding habe beim Titelkampf in Astana „für Chinas nationales Ansehen“Geschichte geschrieben, hieß es in der Zeitung „Hangzhou Ribao“: „Es ist ein denkwürdiger Moment.“Einer mit langer Vorlaufzeit. Vier Stufen sollte Chinas
Schachelite erklimmen, so der Plan mit dem klangvollen Namen „Großer Drache“: erst der WM-Titel bei den Frauen, dann die Triumphe im Team – und final die Krone bei den Männern.
„Ich bin sehr erleichtert“, sagte Ding wenige Minuten nach seinem Sieg im Schnellschach, das nach dem 14:14 in den klassischen Partien die Entscheidung bringen musste. „Der Moment, als Jan aufgegeben hat, war sehr emotional“, erklärte er: „Ich habe meine Gefühle nicht mehr kontrollieren können. Ich weiß, dass ich weinen werde. Es war ein schwieriges Turnier für mich.“
Aber eines mit dem geplanten Ausgang. Während der Kulturrevolution unter Mao Zedong war Schachspielen nicht erlaubt, später entwickelte sich eher die chinesische Variante Xiangqi zu einem Massenphänomen. Das in Europa beliebte Spiel blieb wenigen Profis vorbehalten – bis zum Drachen-Projekt. Der Verband finanzierte Trainer und Reisen, und bald stellten sich die ersten Erfolge ein. Xie Jun wurde 1991 erste chinesische Weltmeisterin, die Frauen-Teams dominieren die Szene schon lange, und 2014 sowie 2018 gewannen auch die Männer die traditionelle SchachOlympiade. Mit Ding Liren, der nun im Einzel die Nachfolge des Norwegers Magnus Carlsen antritt. Carlsen hatte nach zehn Jahren auf dem Schach-Thron die Motivation verloren, auf eine Titelverteidigung verzichtet und so den Platz für Ding freigemacht. Er bleibt jedoch die Nummer 1 der Welt, Champion im Schnellund Blitzschach und die Ausnahmeerscheinung im Denksport.