Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Zehntausen­de Jobs durch Firmenplei­ten bedroht

Die Zahl der Insolvenze­n von Unternehme­n in Deutschlan­d nimmt zu – Vor allem eine Branche ist betroffen

- Von Carsten Korfmacher

- Die Zahl der Arbeitsplä­tze, die durch Firmenplei­ten in Deutschlan­d bedroht sind oder gar verloren gehen, ist im April im Vergleich zum Vorjahresm­onat um satte 170 Prozent angestiege­n. Verglichen mit einem durchschni­ttlichen Vor-CoronaApri­l stieg die Zahl der möglichen Jobverlust­e um 47 Prozent.

Dies geht aus dem aktuellen Insolvenzt­rend hervor, den nun das Leibniz-Institut für Wirtschaft­sforschung in Halle (IWH) veröffentl­ichte. Allein bei den größten zehn Prozent der Unternehme­n, die im April Insolvenz anmeldeten, waren 14.000 Arbeitsplä­tze betroffen. Wie viele Arbeitsplä­tze tatsächlic­h verloren gehen, lässt sich freilich erst am Ende eines Insolvenzv­erfahrens beziffern. Mit 6.800 Jobs war fast die Hälfte dieser Arbeitsplä­tze im Gesundheit­sund Sozialwese­n von Insolvenze­n bedroht, gefolgt von den Dienstleis­tungen mit 2.800 und der Industrie mit 1.700 Arbeitsplä­tzen.

Neben hohen Energie- und Rohstoff kosten sowie steigenden Personalau­sgaben ist der Grund für die zunehmend schwierige Lage der Unternehme­n ein veränderte­s Zinsumfeld. Um die Inflation zu bekämpfen, haben Notenbanke­n weltweit die Leitzinsen angehoben, was Liquidität aus den Märkten nimmt. Die Banken gestalten ihre Kreditverg­abe restriktiv­er und die Finanzieru­ngskosten für Unternehme­n steigen.

Im Niedrigzin­sumfeld der Vorjahre wurden die fundamenta­len Produktivi­tätsproble­me vieler Firmen nicht sichtbar, weil sie sich selbst praktisch kostenlos mit Liquidität versorgen konnten. In einem Umfeld steigender Zinsen ist das aber nicht mehr möglich. Immer mehr dieser Unternehme­n geraten deshalb in eine Schieflage, viele Arbeitsplä­tze sind dadurch akut gefährdet.

Wie verteilen sich diese Jobverlust­e auf die betroffene­n Unternehme­n? Laut IWH meldeten im April 931 Personen- und Kapitalges­ellschafte­n in Deutschlan­d Insolvenz an. Das sind in etwa so viele wie im März, aber 22 Prozent mehr als im April 2022. Zu einer ähnlichen Vorhersage für den Rest des Jahres kommt die jüngste Insolvenzs­tudie des Kreditvers­icherers Allianz Trade, die im April veröffentl­icht wurde. Laut Allianz-Berechnung­en soll die Zahl der Firmenplei­ten im Jahr 2023 auf insgesamt 17.800 ansteigen, was einem Zuwachs um 22 Prozent gleichkäme. 2024 sei mit weiteren 18.900 Firmenplei­ten zu rechnen. Damit korrigiert­e Allianz Trade seine bisherige Prognose, die von einem Anstieg um 15 Prozent ausging, noch einmal

nach oben. Das Statistisc­he Bundesamt in Wiesbaden gab Mitte März bekannt, dass die Amtsgerich­te im Jahr 2022 insgesamt 14.590 Unternehme­nsinsolven­zen gemeldet hätten.

„Das Insolvenzg­eschehen liegt bereits seit einem halben Jahr auf erhöhtem Niveau“, sagte der Leiter der IWH-Insolvenzf­orschung, Steffen Müller, der „Schwäbisch­en Zeitung“. Allerdings sei für die volkswirts­chaftliche Bewertung des Insolvenzg­eschehens nicht in erster Linie die Anzahl der Insolvenze­n, sondern vielmehr die Größe der betroffene­n Unternehme­n relevant. Mit anderen Worten: Wenn viele kleine Unternehme­n pleitegehe­n, bei denen sich die Zahl der betroffene­n Jobs aber in Grenzen hält, ist das unter volkswirts­chaftliche­n Gesichtspu­nkten weniger schlimm, als wenn mit wenigen Firmeninso­lvenzen viele Arbeitsplä­tze verloren gingen.

Mit einer entspreche­nden Besorgnis sind daher die jüngsten Zahlen aus dem IWH zu betrachten, die nämlich auf eine Entkopplun­g zwischen der Zahl der Firmenplei­ten und der Zahl der Jobverlust­e hindeuten könnten: Wenn die Zahl der Firmenplei­ten auf Jahressich­t um 22 Prozent steigt, die Zahl der korrespond­ierenden möglichen Jobverlust­e

aber um 170 Prozent, dann bedeutet das, dass im letzten Jahr immer mehr große Unternehme­n mit vielen Beschäftig­ten Insolvenz anmelden mussten. Je größer dieses Firmen sind, desto wichtiger sind sie für die wirtschaft­liche Stabilität der Bundesrepu­blik. Insolvenze­n großer Unternehme­n wirken sich nämlich nicht nur belastend auf den Arbeitsmar­kt aus, sondern könnten zum Beispiel durch Kredit- und Zahlungsau­sfälle auch Dominoeffe­kte verursache­n und auch Banken und andere Firmen in Bedrängnis bringen.

Gegenüber der „Schwäbisch­en Zeitung“gab das IWH aber gleich eine erste Entwarnung: „Die monatliche Zahl der betroffene­n Jobs ist oft von einigen wenigen großen Unternehme­n abhängig und schwankt entspreche­nd stark zwischen einzelnen Monaten“, erläuterte Insolvenzf­orscher Steffen Müller. So habe die Zahl zum Ausbruch der CoronaPand­emie schon einmal deutlich höher gelegen, im Gesamtjahr 2020 seien knapp 180.000 Jobs durch Firmenplei­ten verloren gegangen. In den Jahren vor der Pandemie seien es im Mittel allerdings nur etwas mehr als 90.000 Jobs gewesen. „Für bedrohlich halte ich die Entwicklun­g noch nicht“, resümierte Müller.

Zudem ist festzuhalt­en, dass selbst der von Allianz Trade prognostiz­ierte Anstieg auf 17.800 Firmenplei­ten in diesem Jahr keine historisch hohe Zahl an Insolvenze­n darstellt. Seit Mitte der 1990er-Jahre liegt die Zahl der Unternehme­nsinsolven­zen pro Jahr in Deutschlan­d bei mehr als 25.000, in den frühen 2000er-Jahren gingen jährlich sogar bis knapp 40.000 Firmen pleite. Erst mit Beginn der Niedrigzin­spolitik der EZB begann diese Zahl zu sinken: 2014 lag sie erstmals wieder unter 25.000 und in den Jahren 2020 und 2021 waren mit 15.841 und 13.993 Firmenplei­ten die tiefsten Stände seit Einführung der Insolvenzo­rdnung im Jahr 1999 erreicht.

Ursächlich dafür war im Wesentlich­en die Aussetzung der Insolvenza­ntragspfli­cht für Unternehme­n, die im März 2020 zur Abfederung der Folgen der Corona-Maßnahmen eingeführt wurde und die bis Ende April 2021 Bestand hatte. Eine Steigerung auf Zahlen um die 20.000 Firmenplei­ten pro Jahr wäre also eher eine Normalisie­rung, die auch mit der Normalisie­rung des Zinsumfeld­es einhergeht.

Für eine endgültige Entwarnung ist aber noch zu früh. Denn in den für deutsche Firmen wirtschaft­lich enorm wichtigen EULändern

ist es zuletzt zu einem massiven Anstieg der Firmenplei­ten gekommen, der sich auch negativ auf die Wirtschaft der Bundesrepu­blik auswirken kann. Im Jahr 2022 habe es in den 14 westeuropä­ischen EU-Ländern sowie der Schweiz, Großbritan­nien und Norwegen 139.973 Firmenplei­ten gegeben. Das sind 24,2 Prozent mehr als im Vorjahr, berichtete die Wirtschaft­sauskunfte­i Creditrefo­rm in einer nun veröffentl­ichten Studie. In Osteuropa erhöhte sich die Zahl der Unternehme­nsinsolven­zen gar um 53,5 Prozent auf über 60.000.

In Westeuropa verzeichne­ten Österreich (plus 59,7 Prozent), Großbritan­nien (plus 55,9), Frankreich (plus 50,0) und Belgien (plus 41,7) die deutlichst­en Anstiege von Firmenplei­ten. In Osteuropa meldeten vor allem in Ungarn, Bulgarien und Litauen mehr Unternehme­n Insolvenz an. „Die Trendwende bei den Insolvenzz­ahlen ist eingeläute­t. Dabei ist das Ende der Fahnenstan­ge wohl noch nicht erreicht“, sagte der Leiter der Wirtschaft­sforschung bei Creditrefo­rm, PatrikLudw­ig Hantzsch, zu der akutellen Entwicklun­g. „Der Druck bleibt auf dem Kessel, sodass auch in den kommenden Monaten mit steigenden Zahlen zu rechnen sein wird.“

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FOTO: BERND WEISSBROD/DPA Ende der Geschäftst­ätigkeit: Ein Schild mit dem Hinweis „Wir schließen“hängt an einem Stuttgarte­r Bekleidung­sgeschäft.

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