Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Mama darf nicht nach Deutschland
Eine Ravensburgerin will ihre kranke Mutter aus der Türkei zu sich holen und scheitert. Die Regeln sind streng, die Einzelschicksale dramatisch. Ändern wird sich jedoch wohl nichts.
- Jülya Akdogan hat in ihrem Leben viel gekämpft. Sie ist Tochter einer türkischen Gastarbeiterfamilie, der Vater war gewalttätig, die Mutter musste vor ihm zurück in die Türkei f liehen. Zwischen den Eltern entbrannte ein Sorgerechtsstreit, letztendlich musste die kleine Jülya bei ihrem Vater in Deutschland bleiben. Sie wächst ohne ihre Mutter auf, macht den Hauptschulabschluss, eine Lehre und gründet selbst eine Familie. Mittlerweile hat sie sogar ihren eigenen Frisörsalon in Ravensburg. Sie könnte jetzt glücklich sein. Doch in letzter Zeit weint Jülya Akdogan viel – wegen ihrer Mutter.
Die 76-Jährige lebt in der türkischen Küstenstadt Izmir. Sie sei krank, berichtet die Ravensburgerin Akdogan von ihrer Mutter – und habe einen Behinderungsgrad von 68 Prozent. „Sie kommt nur noch mit Schmerztabletten durch den Tag.“Familie und Freunde, die ihr helfen könnten, habe sie vor Ort nicht mehr. „Ich will sie einfach noch mal pf legen, bevor sie stirbt“, sagt Akdogan – und noch einmal gemeinsame Zeit verbringen, von der die beiden in ihrem Leben so wenig hatten. Doch vor wenigen Wochen verweigerten die Behörden ein dauerhaftes Visum für ihre Mutter.
Laut Auswärtigem Amt lehnten deutsche Vertretungen im Ausland im vergangenen Jahr 840 Anträge solcher Art ab, 500 wurden genehmigt. Hinzu kommt eine unbekannte Anzahl an Anträgen, die während des Verfahrens eingestellt wurden.
Die Familienzusammenführung, sei es auf Dauer oder auch nur für einen Besuch, ist beschwerlich. Die Folge sind tragische Einzelschicksale wie das von Jülya Akdogan. Sie hat das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Eine Veränderung der strengen Vorschriften im Aufenthaltsgesetz ist aber nicht in Sicht.
Das Nachzugsrecht gilt nur für die Kernfamilie. Erwachsene dürfen also Ehegatten oder minderjährige
Kinder nachholen. Minderjährige Kinder wiederum nur ihre Eltern. In allen anderen Fällen braucht es einen sogenannten Härtefallantrag.
Jülya Akdogan war mit ihrem Mann Michael anfangs guter Dinge, dass ihre Mutter für einen Härtefall infrage kommt. Denn der ist laut dem Aufenthaltsgesetz unter anderem dann gegeben, wenn ein Familienmitglied pflegebedürftig ist und es im aktuellen Heimatland keine ausreichende Hilfe bekommt.
Vor über einem Jahr begannen die Akdogans, der Ausländerbehörde der Stadt Ravensburg Unterlagen vorzulegen. Unter anderem müssen Antragsteller beweisen, dass sie für den Unterhalt des Angehörigen auf kommen können und ausreichend Wohnraum
für einen weiteren Bewohner haben. Zudem muss eine Krankenversicherung vorliegen und der Beweis, dass der Angehörige keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen wird. Im speziellen Fall der Akdogans müssen Antragsteller darüber hinaus aufzeigen, dass die Angehörigen pf legebedürftig sind und dass sie auf die familiäre Pflege in Deutschland angewiesen sind.
Der Antrag wanderte zwischen Ausländerbehörde, Regierungspräsidium Tübingen und dem deutschen Konsulat in Izmir hin und her. Eine aufreibende Zeit, so Jülya und Michael Akdogan. Über Monate kamen immer wieder Fragen und Unsicherheiten auf, immer wieder musste die Familie laut eigener Aussage bei den Behörden nachhaken. Während die
Ausländerbehörde der Stadt immer mal wieder erreichbar gewesen sei, hätten das Regierungspräsidium in Tübingen und das deutsche Konsulat in Izmir überhaupt nicht auf ihre Anfragen reagiert, berichtet Jülya Akdogan. Anfang März erreichte sie dann die Absage des Konsulats in Izmir. Die Ravensburgerin fühlte sich verloren. Besonders ärgerte sie es, dass keine Behörde ihr die Frage beantwortete, warum genau der Antrag abgelehnt wurde.
Nachfrage bei der Stadt Ravensburg: Die könne die Absage leider nicht kommentieren, sagt Birgit Brenner, Abteilungsleiterin der Ausländerbehörde. „Wir haben die Aufgabe, die Voraussetzungen zu prüfen, die vor Ort gegeben sind. Die letzte Entscheidung trifft dann das Konsulat.“Die deutsche Vertretung in der Türkei äußert sich jedoch nicht zur Absage, die Mails der „Schwäbischen Zeitung“blieben unbeantwortet.
Durch die Recherche ist mittlerweile jedoch klar, dass die Absage zwei Gründe hat: Zum einen argumentieren die Behörden mit der Pf legeversorgung, die in der Türkei ausreichend vorhanden sei. Zweitens habe wohl der eingereichte Nachweis der Pf legebedürftigkeit nicht ausgereicht.
Wie schwierig der Härtefallantrag sein kann, zeigen Zahlen des Kreises Ravensburg. Im Zuständigkeitsbereich des Landratsamtes leben acht Personen, die ein Visum per Härtefallantrag bekommen haben. Der letzte erfolgreiche Antrag liegt laut Landratsamt schon sechs Jahre zurück. „Der Härtefall muss sehr außergewöhnlich sein“, schätzt Heike Breitweg die Chancen auf einen erfolgreichen Antrag ein. Sie ist Migrationsberaterin der Caritas im Kreis Ravensburg und weiß aus eigener Erfahrung, dass das Ergebnis für viele Betroffene bitter ist.
Breitweg berichtet von zahlreichen Fällen deutscher Antragsteller, aber auch von Geflüchteten. Beispielsweise von Eltern aus Syrien, die ihren Sohn nach Deutschland holen wollten. Der hatte in Ägypten einen schweren
Autounfall und ist nun querschnittsgelähmt. Er ist aber kein EU-Bürger und über 18 Jahre alt – der Härtefallantrag wurde abgelehnt. Bei einem anderen Fall wollte ein Mann seine Schwester retten, die im Ausland in einer gewalttätigen Beziehung lebt. „Da dachten wir wirklich, die muss da raus, sonst ist sie vielleicht bald tot“, erinnert sich Breitweg. Der Härtefallantrag wurde abgelehnt.
An diesem Vorgehen der Behörden gibt es Kritik. In einem Positionspapier des Deutschen Caritasverbandes aus dem vergangenen Jahr heißt es, dass das Ausländerrecht familiäre Unterstützung verhindere und die strikte Beschränkung auf die Kernfamilie gelockert werden müsse. Und: „Es sollten – wie bei EU-Bürgern – ausländische Eltern nachkommen können, sofern ihnen von ihrem hier lebenden Kind oder Schwiegerkind Unterhalt gewährt wird.“
Eine Vereinfachung der Härtefallregelung sei nicht vorgesehen, schreibt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums auf Anfrage, ohne dies näher zu begründen. Es soll aber bald eine Anpassung an anderer Stelle geben: Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass nachziehende Eltern, die zu ihrem minderjährigen Kind nach Deutschland kommen, auch dessen Geschwister mitnehmen dürfen.
Hürden gibt es aber nicht nur bei dauerhaften Visa, wie bei den Akdogans. Deutsche mit Migrationshintergrund haben es auch schwer, Angehörige für einen Besuch einzuladen. „Wenn jemand hier Hochzeit feiert, muss er schon zehn Monate vorher Kontakt zur Botschaft in der Türkei aufnehmen, damit die Verwandten einreisen dürfen“, sagt Hamza
Erdoğan, Vorsitzender der Türkisch-Islamischen Gemeinde Ravensburg.
Für jede Einreise eines Verwandten aus einem nicht EULand braucht es ein Visum – sowie viel Geduld und Nerven, sagt Erdoğan. Beispielsweise müsse man darlegen, dass der Einreisende genug Geld zur Verfügung hat und der Gastgeber genug Wohnraum, um den Besucher aufzunehmen. „Wenn man bei den Behörden anruft, geht keiner ran. Wenn man einen Termin will, kriegt man einen zwei Monate später“, sagt Erdoğan. Es ist ein riesiges Thema in der Gemeinde. „Man hat ständig diese Unsicherheit, ob das Visum genehmigt wird. So bröckelt die Bindung zur Familie.“
Daran änderte laut Erdoğan auch das schwere Erdbeben von Anfang Februar nichts. Obwohl die Bundesregierung ein erleichtertes Visa-Verfahren für betroffene Türken mit Familie in Deutschland verordnet hat, „kenne ich nur eine Familie in Ravensburg, bei der die schnellere Einreise aus dem Erdbebengebiet funktioniert hat“, so Erdoğan.
Auch Jülya Akdogan hat bereits mehrfach um ein touristisches Visum für ihre Mutter kämpfen müssen. Am Ende hat es irgendwie immer geklappt. Das ist nun beim dauerhaften Visumsantrag anders. „Mein Mann sagt, die Hoffnung stirbt zuletzt, aber ich kämpfe seit Jahren und verstehe es einfach nicht. Ich habe keine Kraft mehr“, sagt Akdogan. „Ich will doch nichts geschenkt haben, ich will nur das Recht, meine Mutter in unserem Zuhause zu pf legen.“
Als Nächstes will die Familie einen Anwalt einschalten, „vielleicht hat der noch irgendwelche Ideen“, so die Hoffnung. Wenn das nicht klappt, bleibe noch die letzte Lösung: auswandern. Ihr Mann Michael wäre bereit, nach Izmir zu ziehen, sagt Jülya Akdogan. „Ich kann mir das aber gerade nicht vorstellen. Ich bin doch hier groß geworden und habe mir in Ravensburg ein Leben aufgebaut.“
„Ich will meine Mutter einfach noch mal pflegen, bevor sie stirbt.“Jülya Akdogan