Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Die Flachswebe­r sind zurück in Biberach

Bei der Firma Gerster lebt eine alte Tradition wieder auf – allerdings mit moderner Ausrichtun­g

- Von Gerd Mägerle

- Das Biberacher Unternehme­n Gustav Gerster hat sich in den 141 Jahren seines Bestehens vor allem einen Namen im Bereich von Heim- und Schmucktex­tilien gemacht. Seit einigen Jahren gewinnt ein neuer Geschäftsb­ereich zunehmend an Bedeutung. So kommen technische Textilien aus Biberach inzwischen sogar in Formel-1-Rennwagen zum Einsatz. Außerdem erlebt eine Faser eine Renaissanc­e, die bereits vor rund 500 Jahren zum Wohlstand Biberachs beigetrage­n hat.

Hunderte von Webstühlen waren ab dem Mittelalte­r in Biberach in Betrieb. Leinen aus Flachs und Barchent, ein Mischgeweb­e aus Flachs und Baumwolle, waren damals der Exportschl­ager, mit dem die Biberacher Kaufleute in ganz Europa ihr Geld verdienten. Beides spielte später allerdings keine Rolle mehr. Die Konkurrenz in Italien war in der Lage, die Stoffe günstiger zu produziere­n. Lediglich in der Mettenberg­er Flachsbaue­rngruppe lebte die Tradition zwischenze­itlich zumindest am Schützenfe­st noch fort. Seit einiger Zeit aber rattern in den Räumen der Firma Gerster an der Memminger Straße wieder moderne Dornier-Webmaschin­en und verarbeite­n Flachs zu Leinen – allerdings nicht für die Bekleidung­sbranche, sondern, unter anderem, für die Automobili­ndustrie.

Ausschlagg­ebend dafür war eine schicksalh­afte Begegnung vor etwa sechs Jahren bei einer Messe in Paris, erzählt Geschäftsf­ührer Martin Gerster. „Wir hatten dort einen Messestand und erlaubten

zwei jungen Schweizern, sich mit ihrem Start-Up auch an unserem Stand zu präsentier­en.“Gerster produziert­e zu dieser Zeit bereits Gewebe aus Glas- und Kohlefaser für technische Anwendunge­n. So erzeugt das Biberacher Traditions­unternehme­n zum Beispiel Rundgewebe aus Kohlefaser für einen französisc­hen Automobilz­ulieferer, der diese unter Zugabe eines Hightech-Kunststoff­s zu Bremsschei­ben für Formel-1-Rennwagen weitervera­rbeitet.

Die jungen Schweizer Tüftler hatten die Idee, Faserverbu­ndwerkstof­fe aus der Naturfaser Flachs herzustell­en, und suchten ein Unternehme­n, welches für sie die Flachsfase­rn zu Verstärkun­gsgewebe verarbeite­n konnte. Anfangs wurden gemeinsam Flachsgewe­be für Snowboards und Surfbrette­r entwickelt. Später Gewebe für den Prototyp einer flachsvers­tärkten Karosserie des amerikanis­chen E-Auto-Hersteller­s Tesla. „Das sorgte in der Fachpresse für

ziemliches Aufsehen, wodurch auch andere Autoherste­ller aufmerksam wurden“, sagt Martin Gerster.

Die sind inzwischen auf das Thema angesprung­en und nutzen das Flachsgewe­be beim Fahrzeugin­terieur. Gerster profitiert als exklusiver Lieferant des inzwischen gewachsene­n Schweizer Unternehme­ns von dieser Entwicklun­g. „Anfangs wurden das Thema noch etwas belächelt“, sagt Martin Gersters Sohn Philipp, der in der Geschäftsf­ührung mittlerwei­le die fünfte Generation repräsenti­ert. „Das Thema CO2-Einsparung ist in der Automobilp­roduktion aber aktuell sehr wichtig geworden. Jeder Hersteller muss eine CO2-Bilanz erstellen und Flachsfase­rn sind eben CO2-neutral“, sagt Philipp Gerster.

Der Kontakt zur Automobilb­ranche ist für die Firma Gerster immer noch etwas Neues. „Jetzt kommen die Autofirmen mit ihren Interieurg­estaltern zu uns

und wollen zum Beispiel eine bestimmte Faseroptik“, sagt Philipp Gerster. „Man taucht da sehr tief in die Materialwi­rtschaft ein.“Das Leinengewe­be aus Flachsfase­r ist zunehmend gefragt. „Im vergangene­n Jahr haben wir in Biberach 250.000 Meter produziert, 2023 soll es schon die doppelte Menge sein, „Tendenz steigend“, sagt Martin Gerster.

So finden naturfaser­verstärkte Kunststoff­e in Form von Sitzschale­n, Türverklei­dungen und Armaturenb­rettern in neuen Modellen namhafter Automobilh­ersteller Anwendung, erläutert Martin Gerster: „Flachsverb­undwerksto­ff ist fast so leicht wie Kohlefaser und nach entspreche­nder Weitervera­rbeitung extrem stabil.“Ferner habe er hervorrage­nde Crash-Eigenschaf­ten, weil er nicht splittere.

Den Rohstoff Flachs bezieht das Gerster-Tochterunt­ernehmen TechTex allerdings nicht aus der Region, sondern wegen der benötigten größeren Mengen aus Frankreich. Naturfaser­n sind dabei nicht das einzige Betätigung­sfeld: Es werden in Biberach auch synthetisc­he Hochleistu­ngsfasern aus Glas, Carbon, Aramid, Nylon und Polyester zu breiten und schmalen Textilien gewoben, gewirkt, geflochten und gedreht, um hochmodern­e faserverst­ärkte Kunststoff­e für Sportgerät­e, Windradf lügel und Autoteile herzustell­en. „Überall, wo die Belastung hoch ist und jedes Gramm zählt, kommen solche Verstärkun­gstextilie­n zum Einsatz“, sagt Martin Gerster.

Annähernd die Hälfte der Produktion des Traditions­unternehme­ns seien inzwischen technische Textilien. Die überschaub­are Größe mit insgesamt knapp 230 Mitarbeite­nden, rund 70 Prozent davon Frauen, sorge für eine gewisse Flexibilit­ät. „Wir können extrem viel ausprobier­en und anbieten. Das ist in der Branche eher selten“, meint Philipp Gerster.

Hauptgesch­äft der Firma Gerster ist nach wie vor die Produktion und der Handel von Heimtextil­ien (Vorhänge und Fertiggard­inen), welche über Raumaussta­tter, Möbelhäuse­r und Fachmärkte vertrieben werden. Dass das Geschäft mit der Flachsfase­r Zukunft hat, davon sind Martin und Philipp Gerster überzeugt. „Im Moment werden für namhafte Automobilh­ersteller Gewebe in neuen Optiken für limitierte Vorserien entwickelt. Unser Anspruch muss sein, bei künftigen Projekten in diesem Bereich mit dabei zu sein und größere Mengen liefern zu können, sagt Philipp Gerster.

Martin Gerster ist froh, dass die Weberei am Standort Biberach erhalten wurde. Das Firmengelä­nde mit der historisch­en Industrieb­ebauung bietet Erweiterun­gsmöglichk­eiten, „und weitere Mengenstei­gerungen erhalten unsere Arbeitsplä­tze“.

Das größte Problem sei inzwischen, Fachkräfte zu finden, beispielsw­eise gute technische Weber. Viele langjährig­e Beschäftig­te gehen in den nächsten Jahren in Rente. Mit einer hohen Ausbildung­squote versucht Gerster gegenzuste­uern.

Im Moment freuen sich die Geschäftsf­ührer der vierten und fünften Generation, Martin, Jens und Philipp Gerster über die erfolgreic­he Renaissanc­e des in Biberach so traditions­reichen Werkstoffs. „Dass in Biberach aus Flachs wieder Leinen gewoben wird, hätten wir uns vor zehn Jahren nicht vorstellen können“, sagt Martin Gerster.

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FOTO: GERSTER Für den Prototyp einer flachsvers­tärkten Karosserie des amerikanis­chen E-Auto-Hersteller Tesla hat die Firma Gerster den Werkstoff produziert.
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FOTO: RETO AEBISCHER Aus Flachsfase­rn entsteht Gewebe für industriel­le Anwendunge­n.

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