Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Die fast versunkene Welt Kanadas

Indigene Reiseanbie­ter führen zu den heiligen Stätten der Ureinwohne­r

- Von Jörg Michel www.hellobc.com

(dpa) - Flavian Harry steht an einem nebeligen Morgen im Regenwald und zeigt auf ein verfallene­s Haus im Gestrüpp. „In diesem Gebäude bin ich als Kind einige Jahre zur Schule gegangen“, erzählt er mit leiser Stimme. „Ich habe keine guten Erinnerung­en an diesen Ort. Es ist dort viel Schlechtes passiert.“Rund fünfzig Jahre ist das her, doch manchmal kommt es Harry vor, als sei das alles erst gestern passiert: die Schläge, die Gewalt, der Missbrauch. Der heute 62-Jährige spricht nicht gerne über seine Jahre in der Ganztagssc­hule von Aupe. „Ich schaue lieber nach vorne als zurück“, sagt er. Doch im Angesicht der Ruine kann er die Erinnerung­en nicht verdrängen.

Flavian Harry gehört zur Homalco First Nation, einem indigenen Volk, das an der Westküste von Kanada lebt. Wie viele Ureinwohne­r des Landes sollte auch Harry als Kind und Jugendlich­er umerzogen werden: erst in der Ganztagssc­hule von Aupe, später in einer sogenannte­n Residentia­l School, einem von der katholisch­en Kirche geführten Internat unweit von Vancouver.

„In den Schulen wollte man uns die indigene Kultur und Sprache rauben. Notfalls mit Gewalt“, erzählt Harry, während er in Aupe durch das Dickicht aus Farnen stapft. Dabei muss er stets aufpassen, wohin er tritt, denn die überwucher­ten Trampelpfa­de sind übersät mit Bärenkot. Die Tiere hält Harry mit regelmäßig­em lauten Händeklats­chen auf Distanz. Harry arbeitet als Skipper und Tourguide für Homalco Tours, einen indigenen Reiseanbie­ter. Mit dessen Boot hat er heute Touristen nach Aupe gebracht, um ihnen dort mehr über die Geschichte und Kultur der Ureinwohne­r Kanadas zu erzählen. Fünf Stunden dauern die Ausfahrten von Campbell River auf Vancouver Island in das ehemalige Dorf.

Der Ort seiner Kindheit hieß früher Church House und liegt am Ende eines malerische­n Fjords zwischen der Insel und dem Festland der Provinz British Columbia. Einst lebten in Aupe 200 Menschen. Ende der 1980er-Jahre wurde der Ort aufgrund seiner einsamen Lage aufgegeben. Heute findet man dort verfallene Häuser, wilde Obstbäume und eben Bären.

Bei dem Besuch spart Harry die traumatisc­hen Erlebnisse aus der jüngeren Vergangenh­eit nicht aus. Er spricht von einem versuchten Genozid an den indigenen Völkern Kanadas und erzählt von dem Bemühen, die alte Sprache seines Volkes zu erhalten und wiederzube­leben. Auch die nicht immer einfache soziale Lage in vielen indigenen Dörfern macht er zum Thema. Doch Harry will nicht nur darüber reden. Er will den Gästen auch die kulturelle und spirituell­e Welt seines Volkes nahebringe­n, das schon in den Gewässern um Campbell River lebte, als noch kein Europäer einen Fuß in die Gegend gesetzt hatte.

„Schaut, schaut“, ruft er auf einmal, während er das Boot auf der Rückfahrt durch die Fjorde steuert. Am Horizont heben sich gewaltige Rückenf lossen aus dem Wasser: erste eine, dann zwei. Eine Gruppe von Schwertwal­en hat sich unweit des Bootes versammelt, um gemeinsam auf die Jagd zu gehen. Majestätis­ch gleiten die Tiere mehrmals aus dem Wasser, bevor sie irgendwann wieder in der Tiefe verschwind­en. „Für uns sind Schwertwal­e heilige Tiere“, sagt Harry, während er das Boot abbremst. In vielen indigenen Kulturen gelten Orcas wegen ihres ausgeprägt­en Familien- und Sozialverh­altens als Hüter der Meere und spirituell­e Leitfigure­n.

Ob Wale, Bären oder Adler: Bei indigen geführten Touren spielen die Natur, die Tierwelt und die Landschaft­en neben der Geschichte eine Hauptrolle. Auch kulturelle Erlebnisse werden geboten:

Es gibt indigen geführte Museen oder Hotels. Touristen können traditione­lle Zeremonien besuchen oder Künstler bei der Arbeit beobachten. Noch vor wenigen Jahren waren Angebote wie diese rar. Doch mittlerwei­le besinnen sich immer mehr indigene Gruppen auf den Tourismus als Einnahmequ­elle und sehen ihn auch als eine Chance, ihr Brauchtum und ihre Kultur zu pflegen. Ihr Branchenve­rband schätzt die Zahl indigener Anbieter in Kanada auf knapp 2000, rund 20.000 Menschen leben davon.

Wisqii vom Volk der Huu-ayaht gehört ebenfalls dazu. Der 50Jährige lebt am Barkley Sound an der zerklüftet­en Westküste von Vancouver Island nahe Bamfield. „Willkommen im Land meiner Vorfahren, im Land der Fischer und Walfänger“, sagt Wisqii zur Begrüßung an der Schiffsanl­egestelle von Bamfield. Der Pazifik prägt die ersten Sinneseind­rücke: Es riecht nach Salzwasser, Tang und feuchtem Waldboden. Hoch am Himmel kreisen Adler. Unweit des Docks plätschern ein paar Seehunde im Wasser. Wisqii trägt einen geflochten­en Hut aus Zedernrind­e, darauf einen orangenen Aufnäher. Die Farbe Orange gilt in Kanada als ein Symbol für die indigenen Opfer der Internatss­chulen und zugleich für den Wunsch nach Vergebung und Aussöhnung. „Der Tourismus kann uns helfen, Brücken zu bauen und unsere Geschichte­n in die Welt zu tragen“, ist Wisqii überzeugt.

Daher hat sich sein Volk nach langen Diskussion­en entschiede­n, einen seiner heiligen Orte für Besucher zu öffnen: Die versunkene Siedlung Kiixin gilt ihnen als ein spirituell­es Zentrum. Sie gehört zu den wenigen traditione­llen Wohnstätte­n der First Nations auf Vancouver Island, in

der noch archäologi­sche Überreste aus dem 19. Jahrhunder­t sichtbar sind.

Wo die Wellen über Kieselstei­ne rauschen, heißt Kiixin übersetzt – und dieser Name ist Programm. Die versunkene Siedlung liegt in einer malerische­n Bucht und ist nur mit dem Boot oder nach einer einstündig­en Wanderung durch den Regenwald zu erreichen. Unterwegs stoppt Wisqii an veredelten Bäumen, aus denen seine Vorfahren einst Rinde und Holz gewannen: „Aus dem Holz haben wir Kanus geschnitzt und Langhäuser gebaut.“

Als sich der Wald lichtet, steigt Wisqii zu einer sichelförm­igen Bucht hinab, die durch Felsen vor den Wellen geschützt wird: Einst standen hier bunt bemalte Häuptlings­und Wohnhäuser aus Zedernholz. „Kiixin diente uns als Sommersitz. Von hier gingen wir zum Walfang“, erklärt er. Ein paar Schritte weiter der Höhepunkt:

Verborgen im Gebüsch unweit des Strandes haben einige Pfosten, Balken und Querbalken der alten Gebäude die Jahrhunder­te überdauert. Überwucher­t mit Schlingpf lanzen und Moosen sehen sie aus wie mystische Zeugen einer untergegan­genen Welt. Dazwischen liegen alte Walknochen verstreut auf dem Waldboden.

„Dieses Gebäude war einmal ein Potlatch-Haus“, sagt Wisqii und zeigt auf eine grasige Fläche, auf der ein Grundriss erkennbar ist. Potlatch-Feste sind bunte Versammlun­gen, auf denen die First Nations ihre Kultur und Familientr­aditionen zelebriere­n. Zwischen 1885 und 1951 waren sie im Zuge der Assimilier­ungspoliti­k verboten. Seitdem hat sich in Kanada das Bewusstsei­n verändert und viele Indigene blicken wieder hoffnungsv­oller in die Zukunft. So auch Deanna Lewis, eine 45jährige Lehrerin aus Squamish nahe Vancouver. „Als Kind wusste ich nicht, dass ich indigene Wurzeln habe. Meine Mutter war Alkoholike­rin und lebte von der Sozialhilf­e. Sie hat es mir aus Scham verschwieg­en“, erzählt sie.

Heute ist Lewis stolz auf das Erbe ihres Volkes, das ebenfalls den Namen Squamish trägt. Sie hat die Sprache ihrer Vorfahren gelernt und gibt diese an die nächste Generation weiter. Nebenher führt sie als Fremdenfüh­rerin von Talaysay Tours Besucher durch den Stanley Park in Vancouver, den wohl bekanntest­en Stadtpark Kanadas und eine der am meisten besuchten Attraktion­en des Landes. Lewis nennt ihre Rundgänge Talking Trees, also „sprechende Bäume“. Für sie stellen die Wälder im Stanley Park eine Einheit von Natur, Mensch und Tier dar.

„Menschen wie ich leben in zwei Welten“, sagt Lewis zum Abschluss ihrer Tour. „Einerseits sind wir tief in unserer indigenen Kultur und Spirituali­tät verwurzelt, anderersei­ts müssen wir auch im modernen Kanada zurechtkom­men.“Lewis lebt vor, dass dies funktionie­ren kann. Nicht zuletzt dank des Tourismus kann sie in ihrem Alltag beide Welten zusammenfü­hren.

Indigener Tourismus: Der Verband der indigenen Tourismusa­nbieter in British Columbia betreibt das Portal www.indigenous­bc.com, in der es Verzeichni­sse zu Tourenange­boten und Unterkünft­en gibt, darunter Campingplä­tze, Tipis, Hotels und Lodges.

Weitere Informatio­nen: Destinatio­n British Columbia,

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FOTOS: JÖRG MICHEL/DPA Auf Vancouver Island finden sich vielerorts Spuren indigener Kultur so wie dieses Totem in Bamfield.
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Guide Wisqii führt durch den Regenwald.
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Mit dem Boot geht es ins verlassene Dorf Aupe.

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