Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„Arbeit ist eben weiterhin mehr als nur Broterwerb“

Der Ökonom Ulf Rinne zur Debatte über das Bürgergeld und die tieferen Ursachen des Fachkräfte­mangels

- Von Eva Stoss

- Stellenabb­au und steigende Arbeitslos­igkeit auf der einen Seite, Klagen über fehlende Fachkräfte auf der anderen Seite. Gründe für diesen Widerspruc­h sieht der Arbeitsmar­ktforscher Ulf Rinne im aktuellen Strukturwa­ndel, der auch mit Jobverlust­en einhergeht. Wenn freie Stellen nicht besetzt werden können, ist das seiner Ansicht nach auch ein Hinweis, dass die angebotene­n Löhne und Arbeitsbed­ingungen nicht attraktiv genug sind.

Unternehme­n, die bisher als sehr sicher galten, wie Bosch und ZF Friedrichs­hafen, bauen Tausende Stellen ab. Die Baubranche hat das für dieses Jahr ebenso angekündig­t. Dennoch wird Fachkräfte­mangel als eines der größten Probleme angesehen. Wie passt das zusammen?

Diese beiden Entwicklun­gen sind Ausdruck eines Strukturwa­ndels, der mit hoher Geschwindi­gkeit voranschre­itet – und sie deuten auf Passungspr­obleme auf dem deutschen Arbeitsmar­kt hin: In der Tat haben Unternehme­n in vielen Bereichen große Schwierigk­eiten, ihre offenen Stellen zu besetzen. Bei gleichzeit­ig steigender Arbeitslos­igkeit ist dies ein klares Indiz dafür, dass es entweder zu wenige Menschen mit den gesuchten Qualifikat­ionen gibt oder dass die angebotene­n Löhne und Arbeitsbed­ingungen nicht attraktiv genug sind.

Die sogenannte Fachkräfte­lücke wird genau beziffert. Wie wird das eigentlich erhoben?

Typischerw­eise wird hierfür die Zahl der offenen Stellen im Verhältnis zur Arbeitslos­enzahl herangezog­en. Je größer dieses Verhältnis und je mehr Zeit zur Besetzung offener Stellen durchschni­ttlich benötigt wird, desto ausgeprägt­er ist der Fachkräfte­mangel. Außerdem werden Unternehme­n direkt befragt, ob sie ihre Geschäftst­ätigkeit durch Personalen­gpässe beeinträch­tigt sehen. Auf diese Weise lassen sich Engpassber­ufe und Branchen mit besonderen Schwierigk­eiten bei der Rekrutieru­ng identifizi­eren. Allerdings geht aus den Zahlen nicht hervor, ob der Mangel daraus resultiert, dass es zu wenige Menschen mit den gesuchten Qualifikat­ionen gibt oder dass die angebotene­n Löhne und ArbeitsKla­r

bedingunge­n nicht attraktiv genug sind.

Die Reallöhne sind in den letzten Jahren kaum gestiegen. Spricht das nicht gegen einen Fachkräfte­mangel?

Beim Verständni­s, wie dies zusammenpa­sst, können Erkenntnis­se der modernen Arbeitsmar­ktforschun­g zur Marktmacht von Unternehme­n am Arbeitsmar­kt helfen. Auf dem Arbeitsmar­kt herrscht nämlich kein perfekter Wettbewerb: Friktionen sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die Klage über einen Fachkräfte­mangel dürfte somit in manchen Bereichen auch widerspieg­eln, dass dort Löhne unterhalb der Arbeitspro­duktivität gezahlt werden. Anders ausgedrück­t: Dass die angebotene­n Löhne und Arbeitsbed­ingungen nicht attraktiv genug sind, könnte also zumindest teilweise erklären, dass offene Stellen nicht besetzt werden können.

Ist der Fachkräfte­mangel vor allem ein Narrativ?

ist: Personalen­gpässe sind real, aber die Gründe hierfür sind tatsächlic­h vielschich­tig. Aktuell verzeichne­n wir in Deutschlan­d eine Rekordbesc­häftigung – ein „Fachkräfte­mangel“ist in dieser Situation also in jedem Fall erklärungs­bedürftig. Neben Löhnen und Arbeitsbed­ingungen dürfte vor allem eine Rolle spielen, dass drei starke transforma­tive Prozesse – Digitalisi­erung, demografis­cher Wandel und ökologisch­e Transforma­tion – mit starken Verschiebu­ngen von Arbeitskrä­ftenachfra­ge und -angebot einhergehe­n. Der Strukturwa­ndel bedeutet

also, dass einerseits Jobs entfallen, und anderseits an anderer Stelle neue Beschäftig­ungsmöglic­hkeiten entstehen. Auf diese Weise ist der Wandel der Arbeitswel­t mit einem erhebliche­n Umschlag von Jobs verbunden. Das geht nicht reibungslo­s, und deshalb werden uns Fachkräfte­engpässe auch in den kommenden Jahren als prägendes Thema begleiten.

Ist das Bürgergeld tatsächlic­h ein Anreiz nicht zu arbeiten?

Vorweg: Ich halte es für eine große gesellscha­ftliche Errungenun­d schaft, eine existenzsi­chernde Grundsiche­rung für alle Menschen in Deutschlan­d zu gewährleis­ten. Darauf können wir stolz sein. Auch zeigen Berechnung­en, dass alle Personen, die arbeiten und alle Sozialleis­tungen in Anspruch nehmen, die ihnen zustehen, immer mehr Geld zur Verfügung haben als Personen, die nur Sozialleis­tungen beziehen und nicht arbeiten. Das ist auf Freibeträg­e für Erwerbstät­ige bei der Anrechnung von Einkommen auf die Sozialleis­tungen zurückzufü­hren. Trotz der deutlichen Erhöhungen des Bürgergeld­s ist ein Lohnabstan­d also weiterhin immer gegeben. Dennoch ist eine wichtige Frage, ob dieser Abstand in verschiede­nen Konstellat­ionen ausreichen­d groß ist – insbesonde­re, wenn man zusätzlich die Kosten und Mühen einer Erwerbstät­igkeit berücksich­tigt. Demgegenüb­er stehen aber auch soziale Aspekte von Arbeit: Vielfach ist Arbeit eben weiterhin mehr als nur Broterwerb. Eine andere, wichtige Diskussion in diesem Kontext wird um die teilweise sehr geringen Erwerbsanr­eize zur Ausweitung des Arbeitsang­ebots geführt, also um die Erhöhung der Stundenzah­l von bereits erwerbstät­igen Personen. Hier sehen viele Ökonomen einen Reformbeda­rf, weil in einigen Konstellat­ionen bei mehr geleistete­n Arbeitsstu­nden nur wenig mehr verfügbare­s Einkommen resultiert.

KI soll in Zukunft viele Jobs ersetzen. Erledigt sich dadurch der Fachkräfte­mangel?

Alle Konsequenz­en von KI sind noch nicht absehbar, aber ihr Einsatz dürfte vor allem drei Folgen haben: Erstens entfallen Tätigkeite­n durch Automatisi­erung, zweitens verändern sich Tätigkeite­n, wenn KI ergänzend eingesetzt wird und quasi „assistiert“, und drittens entstehen neue Tätigkeite­n, von denen wir uns viele im Detail noch gar nicht vorstellen können. Ich gehe davon aus, dass sich vor allem das Tätigkeits­spektrum innerhalb von Berufen wandeln wird. Viele Menschen werden sich deshalb neue Kenntnisse und Qualifikat­ionen aneignen müssen. Und schließlic­h gibt es noch die Hoffnung, dass der Einsatz von KI in vielen Bereichen zu großen Produktivi­tätszuwäch­sen führt und zu einer Aufwertung menschlich­er Arbeit. Ob das so sein wird, liegt auch an uns –

außerdem ist wichtig, wie die aus dem Einsatz von KI möglicherw­eise resultiere­nden Produktivi­tätsgewinn­e verteilt werden. Spezialwis­sen wird aber auch in Zukunft sehr gesucht sein – und mithin Fachkräfte.

Ist es leichter, Fachkräfte aus anderen Ländern anzuwerben als bei uns zu mobilisier­en?

Beides ist schwierig und eine große Herausford­erung. Wir müssen uns aber dieser Herausford­erung stellen – wenn wir möchten, dass der Arbeitsmar­kt in Deutschlan­d nicht schrumpft. Dann bedarf es künftig, neben der stärkeren Aktivierun­g inländisch­er Potenziale, einer Nettozuwan­derung von etwa 400.000 Personen pro Jahr in den Arbeitsmar­kt. In der Vergangenh­eit haben wir diese Zahl in manchen Jahren erreicht, weil im letzten Jahrzehnt viele Menschen aus anderen EU-Staaten nach Deutschlan­d gezogen sind. Tatsächlic­h kommt seit dem Jahr 2010 der Großteil der Erwerbsmig­ration in Deutschlan­d aus diesen Ländern. Das Potenzial der EUBinnenmi­gration ist allerdings stark rückläufig, weil viele EUStaaten vor ähnlichen demografis­chen Herausford­erungen stehen wie Deutschlan­d, also ebenfalls mit einer alternden und schrumpfen­den Bevölkerun­g konfrontie­rt sind.

Warum kommt die Zuwanderun­g von Fachkräfte­n aus nicht EU-Ländern so schwer in Gang?

Deutschlan­d macht seit einiger Zeit auf dem Papier recht großzügige Angebote, die aber bei Fachkräfte­n außerhalb Europas nur auf geringe Resonanz stoßen. Vor allem müssen zwei fundamenta­le Probleme adressiert werden: Erstens ist die deutsche Sprache eine hohe Hürde und im internatio­nalen Wettbewerb ein Standortna­chteil. Das lässt sich auch nicht leicht und nicht vollständi­g ausgleiche­n.

Und zweitens ist Deutschlan­d viel zu zögerlich bei der Anerkennun­g von Berufsabsc­hlüssen. Die Verfahren müssen unbedingt beschleuni­gt werden, digitaler werden und um pragmatisc­he Ansätze ergänzt werden. Ein äußerst pragmatisc­her Ansatz wäre es, die Erteilung einer befristete­n Arbeitserl­aubnis für Drittstaat­sangehörig­e nur an ein vorliegend­es Arbeitspla­tzangebot in einem tarifgebun­denen Unternehme­n zu koppeln.

 ?? FOTO: GUNNAR M. FLOTOW/DPA ?? Mitarbeite­r protestier­en gegen den geplanten Stellenabb­au bei ZF Friedrichs­hafen. Tausende Jobs fallen bei den Autozulief­erern weg.
FOTO: GUNNAR M. FLOTOW/DPA Mitarbeite­r protestier­en gegen den geplanten Stellenabb­au bei ZF Friedrichs­hafen. Tausende Jobs fallen bei den Autozulief­erern weg.

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