Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
„Böse Geister“treiben Mann zu Wahnsinns-Tat
44-Jähriger muss nach Messerangriff auf seine Mutter in Schelklingen in der Psychiatrie bleiben
- Der Mann, der im Juli 2023 in Schelklingen seine Mutter töten wollte, muss in die Psychiatrie. Das hat das Ulmer Landgericht am Montag entschieden. Dabei betrachtet sich der 44Jährige gar nicht als krank.
Für einen so schweren Vorwurf wie versuchter Mord ging das Verfahren relativ schnell: Gerade mal zwei der vier angesetzten Verhandlungstage benötigte die Kammer, um ein Urteil zu fällen. Zu klar war offensichtlich die Sachlage in diesem „extrem tragischen Fall“, wie es Verteidigerin Christina Seng-Roth ausdrückte. Demnach vernimmt der rundum geständige Angeklagte schon seit zehn Jahren Stimmen, die ihn quälen und „mir alles kaputt machen“, wie er es vor Gericht schildert.
Mehr noch: Seit einigen Jahren spüre er die Energie der Stimmen in seinem Körper. Er spricht von „bösen Geistern“, die von ihm Besitz ergriffen und sich mal in Form von Wärme, mal mit Kälte oder mal mit Schmerzen bemerkbar machen.
Es seien die Stimmen seiner ganzen Familie – Mutter, Vater, Oma, Opa, Schwester, Nichte –, aber auch anderer teils schon toter Angehöriger. Sie alle machten ihm Vorwürfe, er gehöre gar nicht zur Familie. Immer wieder, im Grund täglich mehrere Male, werde er auf diese Weise bedrängt und beleidigt. Am häufigsten höre er seine Mutter, die ihn förmlich „weggeworfen“habe als Sohn.
Geboren ist er in Russland, mit seiner Familie ist er Anfang 1996 als 16-Jähriger nach Deutschland gekommen. Hier trennten sich seine Eltern, er lebte zuletzt bei seinem Vater im Raum Karlsruhe, ab und an aber auch bei seiner Mutter in Schelklingen. „Er war als Kind schon problematisch“, erzählt die heute 69-Jährige am Zeugentisch über ihren Sohn. Er habe Möbel kaputt gemacht, Geld gestohlen und nicht zur Schule gehen wollen. Dass er sich offenbar
weigert, Medikamente gegen seine psychische Störung zu nehmen, mache ihr Sorgen. „Dann wird er nie gesund“, sagt die Mutter.
In Deutschland habe er mal beim Vater in Karlsruhe, mal bei ihr in Schelklingen gewohnt. Zwischendurch zog es ihn auch für einige Jahre zurück nach Russland. „Er wollte nie etwas arbeiten“, berichtet die Mutter, und ihr Sohn selbst bestätigt, nur selten einen Job gehabt und hauptsächlich von Arbeitslosengeld gelebt zu haben. Alkohol habe er nie getrunken, erklärt er, Drogen nur ein einziges Mal probiert.
Auf seiner Vorstrafen-Liste stehen überwiegend kleinere Delikte: häufig Schwarzfahren, Kleindiebstähle, Beleidigungen. Einmal aber verprügelt er zusammen mit einem Bekannten einen Afrikaner und muss dafür einige Monate ins Gefängnis, nachdem er gegen Bewährungsauf lagen verstößt. Ansonsten führt er ein eher unauffälliges Leben als meist alleinstehender Mann.
Wenn da die Stimmen nicht wären. Die treiben ihn sprichwörtlich in den Wahnsinn. Seine Mutter schildert dem Gericht: „Die letzten zwei bis drei Jahre hat er bei seinem Vater gewohnt. Er hat mich nicht mehr besucht, aber immer wieder mal angerufen, war aggressiv und hat schlimme Worte geschrien wie: ,Ich töte dich, du bist nicht meine Mutter. Du bist ein Monster.’ Er hat auch meine Tochter und meine Enkelin bedroht.“
Wenige Wochen vor der Tat sei ihr Sohn nach Schelklingen gekommen und habe die Herausgabe von Fotos verlangt: „Er hat mich angegriffen, an der Jacke gepackt und nach unten gedrückt. Er hat auch nach meinem Mann gefragt. Aber der war nicht zu Hause. Dann ist er gegangen.“Der Angeklagte widerspricht im Gerichtsaal: „Meine Mutter sagt nicht die Wahrheit. Ich habe sie nicht angefasst.“
Unstrittig ist hingegen das Geschehen am 20. Juli 2023. Da hört er einmal mehr die Stimme seiner schimpfenden Mutter – und beschließt sie zu töten. In der Hoffnung, die Qualen würden dann ein Ende haben. Er holt sich in Karlsruhe in seiner Wohnung ein Messer, fährt mit dem Zug nach Schelklingen und klingelt spätabends an der Haustür. Als die Frau öffnet, hält er das Messer in die Höhe, schneidet ihr unvermittelt mit einer schnellen Bewegung in den Hals und läuft davon. Die 69-Jährige hat Glück und wird nicht lebensgefährlich verletzt.
Der Täter wird noch am Schelklinger Bahnhof festgenommen. Er leistet keinen Widerstand, ist ruhig und besonnen, wie ein Polizist am Zeugentisch berichtet: „Er zeigte uns die Stelle in der Aach, wo er das Messer weggeworfen hat, das wir auch tatsächlich dort fanden. Auf der Fahrt ins Revier nach Ehingen erzählte er uns, dass er seine Mutter töten wollte.“Von dieser Aussage rückt der Angeklagte auch vor Gericht nicht ab.
Versuchter Mord lautet daher der Vorwurf der Staatsanwaltschaft,
denn der Angriff sei heimtückisch und das Opfer arg- und wehrlos gewesen. Aufgrund des psychischen Gesundheitszustands des Mannes sei aber davon auszugehen, dass er zur Tatzeit schuldunfähig gewesen sei. Da weitere ähnliche Taten zu erwarten seien, beantragt die Staatsanwaltschaft eine Unterbringung des 44-Jährigen in einer psychiatrischen Einrichtung.
Dort befindet er sich bereits seit der Tat und sprach zweimal mit einem Psychiater, der für das Gerichtsverfahren ein Vorgutachten fertigt und am zweiten Verhandlungstag mitwirkt. Sein Fazit ist eindeutig: Wie schon bei einem kurzen Klinikaufenthalt des Angeklagten 2021 diagnostiziert, liege eine chronische paranoide – also wahnhafte – Schizophrenie vor. Und zwar in einer so hartnäckigen Form, dass sie den Mann extrem zermürbt und schließlich in eine subjektiv ausweglose Situation getrieben habe. Die ansonsten vorhandene Fähigkeit, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, sei in diesem psychotischen Zustand zum allergrößten Teil ausgeschaltet gewesen. Ganz sicher aber könne von einer fehlenden Steuerungsfähigkeit („Aus seiner Sicht war es eine Art Notwehr“) und somit einer Schuldunfähigkeit ausgegangen werden.
Da es sich um eine besonders hartnäckige paranoide Schizophrenie mit einer ausgeprägten Wiederholungsgefahr handle, empfiehlt der Sachverständige eine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung – zumal weder die Sozial- noch die Behandlungsprognose günstig seien. Tatsächlich brach der Angeklagte den bisher einzigen Versuch, mit Medikamenten eine Besserung herbeizuführen, nach drei Wochen ab. „Es ist sinnlos“, erklärt er dem Gericht. „Die Medizin hat nichts gebracht. Es gibt nur einen Weg: In die Kirche gehen und beten. Denn die Geister kommen von Gott.“Er sei nicht krank, betont der 44-Jährige, denn er kenne auch andere Leute, die Stimmen hörten.
Das Gericht folgt dem Antrag der Staatsanwaltschaft und ordnet die Unterbringung des Angeklagten in einer psychiatrischen Einrichtung an. „Und zwar so lange, bis Sie keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit sind“, sagt der Vorsitzende Richter Wolfgang Tresenreiter. Aktuell müsse davon ausgegangen werden, dass der Mann jederzeit jemand anderen für seine kaum erträgliche Situation verantwortlich machen könne und zur Rechenschaft ziehen wolle. „Die Stimmen haben Sie gehört, das weiß ich“, sagt Tresenreiter. „Aber es gibt keine Geister und Gespenster. Die allermeisten Menschen sind dieser Ansicht. Es ist ein Zustand, für den können Sie nichts. Es ist eine Erkrankung, die erschreckt.“
Deshalb appellierte er an den Angeklagten, eine medikamentöse Behandlung anzunehmen: „Dazu bedarf es eines gewissen Grundvertrauens. Die Leute wollen Ihnen nichts Böses, sie wollen Ihnen helfen.“