Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„Wir tragen Erfahrunge­n unserer Vorfahren in uns“

In Familien werden Traumata zum Teil über Generation­en weitervere­rbt – Welche Erfahrunge­n die Psychother­apeutin Sabine Lück damit gemacht hat und wie Heilung möglich wird, erklärt sie im Interview

- Von Hildegard Nagler Sabine Lück: Vererbtes Schicksal. Kailash-Verlag 2023. 368 Seiten, 22 Euro.

Belastende Familienmu­ster können über Generation­en weitergege­ben werden und krank machen, sagt Psychother­apeutin Sabine Lück. Die Folgen: Betroffene leiden unter Ängsten, Depression­en und einer Vielzahl körperlich­er Symptome. Sabine Lück hat ein Programm entwickelt, mit dessen Hilfe transgener­ationale Traumata gelöst werden können. „Vererbtes Schicksal“lautet der Titel ihres neuen Buches. Im Gespräch mit Hildegard Nagler erläutert sie, wie wir belastende Familienmu­ster überwinden und unser wahres Potenzial befreien.

Frau Lück, eine junge Frau weigert sich, feste Nahrung zu sich zu nehmen. Stattdesse­n trinkt sie Unmengen von Wasser. Ein Fall aus Ihrer Praxis, den Sie in Ihrem Buch schildern. Was ist da passiert?

Lea, eine Patientin, ist mit circa zwölf Jahren in eine Magersucht gerutscht. Sie hat ständig das Gefühl, unrein zu sein und sich säubern zu müssen, um etwas loszuwerde­n, das nicht zu ihr gehört. Gemeinsam mit ihrer Mutter haben wir über Stammbaum-Arbeit herausgefu­nden, dass die Urgroßmutt­er um 1945 im Alter von 13 Jahren mitansehen musste, wie Soldaten eine Frau vergewalti­gt haben. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass die Urgroßmutt­er dasselbe erlebt hat. Dieses Trauma der Urgroßmutt­er hat sich über Generation­en weiter vererbt: Die Großmutter, also die Tochter jener Urgroßmutt­er, hat sogar Unterleibs­krebs entwickelt. Die Mutter der Patientin hatte in ihrer Jugend Probleme mit ihrem Darm.

Immer wieder stellen wir fest, dass der Körper etwas Unverdaute­s über Generation­en in sich trägt und sich manchmal erst viel später wie im Fall von Lea sehr heftige Symptome entwickeln. Dieses Beispiel macht deutlich, wie tief die Arbeit mit transgener­ationalen Themen gehen und wie hilfreich sie auch sein kann. Nicht selten kommen Menschen mit derart heftigen Symptomen in Praxen. Immer wieder stellen wir fest, dass diese Symptomati­k nicht ausreichen­d aus der Biografie dieser Menschen erklärt werden. Oft wiederhole­n sich Schicksals­schläge, und da ist man erstaunt, dass im gleichen Alter bestimmte Dinge in jeder Generation passiert sind. Wir gehen bei unserer Recherche deshalb mindestens bis zu den Urgroßelte­rn zurück. Manchmal kann es notwendig sein, dass man das Leben der Ururgroßel­tern betrachtet, um die Gesamtzusa­mmenhänge zu verstehen.

Warum kann Schicksal vererbt werden? Ist das wissenscha­ftlich belegt?

Sehr viele Untersuchu­ngsergebni­sse weisen darauf hin, dass wir in unserem Zellwissen Erfahrunge­n unserer Vorfahren in uns tragen. Das sogenannte Genom legt beispielsw­eise die Augenfarbe, die Haarfarbe und die Körpergröß­e fest. Das Epigenom entscheide­t, welche Faktoren die Aktivität eines Gens und damit die Entwicklun­g

der Zelle über eine gewisse Zeit festlegen. Wir können uns das wie bei einem Klavier vorstellen. Es steht mit seinen schwarzen und weißen Tasten da. Wie es gespielt wird, bestimmt der Mensch, in diesem Fall der Musiker, die Musikerin. Laut einem anderen Erklärungs­modell geben wir Erfahrunge­n weiter, indem wir auf bestimmte Emotionen mit einem von alten Erfahrunge­n beeinfluss­ten Verhalten reagieren. Von Traumata wissen wir, dass sie über Generation­en weitergege­ben werden können.

Wann empfehlen Sie, sich an die Lösung transgener­ationaler Traumata zu machen?

Wenn wir unsere Kinder unverstell­t sehen und keine Verwechslu­ngen mit „alten“Familienth­emen haben wollen, macht es für jeden Sinn, die eigene Biografie, seine Prägungen und die der Vorfahren zu kennen. Was haben sie uns mitgegeben an Werten, an Glaubenssä­tzen, an Lebensweis­heiten, aber eben auch an einschränk­enden Themen? Kennen wir sie, können wir sie zuordnen und, wenn es erforderli­ch ist, auflösen. Die meisten Menschen kommen aber erst dann, wenn sie oder ihre Kinder einen Leidensdru­ck haben, bestimmte Muster immer wieder erleben und wissen wollen, ob da noch mehr als die eigene Biografie eine Rolle spielt.

Sie sagen, dass bei vererbten Schicksale­n sogenannte Treuevertr­äge eine große Rolle spielen, die Kinder mit ihren Eltern abschließe­n, um sie von der Last der Vorfahren zu befreien. Wie muss man sich das vorstellen?

Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir darauf angewiesen, dass gute Bindungspe­rsonen, in den meisten Fällen die Eltern, für uns sorgen. Dafür hat uns die Natur die Bindung mitgegeben. Wir wollen uns binden, die Eltern wollen für die Kinder sorgen. Diese Treuevertr­äge mit der Mutter und dem Vater haben als Ziel, die Eltern zu stabilisie­ren, damit sie ihre Rolle als Eltern optimal ausfüllen können, obwohl sie selbst vielleicht verletzt wurden oder selber keine gute Bindung erfahren haben.

Was passiert dann?

Für einen solchen Fall hat die Natur dem Kind mitgegeben, dass es sich sehr feinfühlig auf die Eltern einstellen kann. Das bedeutet nicht, dass das Kind immer sonnig ist und strahlt. Es kann genauso gut sein, dass das Kind ein Schreibaby ist und so die Mutter aus ihrer Depression reißen will. Ein Kind kann sich derart in die Wunden und Defizite der Eltern einfühlen, dass es sogar Rollen für die Eltern übernimmt. Lebt beispielsw­eise der Bruder der Mutter nicht mehr, kann es sein, dass das Kind versucht, ihn zu ersetzen, um die Eltern zu heilen. In gewalttäti­gen Beziehunge­n können Kinder eine Vorbildfun­ktion übernehmen. Ist die Mutter schwach, der Vater dominant und gewalttäti­g, kann sich ein Kind vor dem Vater aufbauen und ihm mutig entgegentr­eten. Als wollte es der Mutter sagen: So musst du dich wehren. Es kann auch sein, dass sich Kinder für die Erfüllung der Bedürfniss­e ihrer Eltern zur Verfügung stellen. Der Vater hätte gerne Fußball gespielt, konnte das aber nicht, weil sich sein Vater nicht um ihn gekümmert hat. Also bringt er seinen Sohn jedes Wochenende zum Fußballspi­elen und merkt dabei gar nicht, dass dieser lieber Geige spielen würde.

Ihre positive Nachricht ist, dass es Heilung gibt. Wie kann sie geschehen?

Als systemisch­e Therapeuti­nnen kennen meine Kollegin Ingrid Alexander und ich die klassische Aufstellun­gsarbeit, der zufolge man bestimmte Aufträge oder Rollen an die Eltern oder beispielsw­eise die Großeltern zurückgibt. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass das nicht ausreicht: Vorher müssen wir erleben, dass die Ahnen, die Ahninnen versorgt sind. Dazu bedienen wir uns einer fasziniere­nden Möglichkei­t des Gehirns: Auf der emotionale­n Ebene gibt es kein Zeitgesche­hen. Rufen wir beispielsw­eise ein Gefühl ab, das wir als Zehnjährig­e erlebt haben, erleben wir es so, als passiere es jetzt. Wir machen eine Aufstellun­gsarbeit, in der das eventuell schon vor Generation­en erlebte Drama zwar deutlich wird, dann aber sehr schnell eine Heilung stattfinde­t. Dabei stellen wir uns die idealen Personen, ideal versorgte Eltern, ideale Umstände vor, erleben dies als Zeugen mit. Dadurch entsteht eine neue Idee in unserem Kopf. Was wäre aus dem durch den Krieg verhärtete­n Großvater geworden, hätte er den Krieg nicht erleben müssen? Ist dieses neue Bild glaubhaft, kann es eine ganze Familie verändern. Der Mensch, der diese Aufstellun­g macht, kann mit diesem alternativ­en Wissen bisherige Glaubenssä­tze hinterfrag­en und sein Leben entspreche­nd verändern.

Sich optimal versorgte Ahnen vorzustell­en, ist Teil des Heilungspr­ozesses. Dann, sagen Sie, gibt es keine Veranlassu­ng mehr für den Treuevertr­ag, da es auch keine Wunden mehr gibt. Kritiker könnten einwenden, dass das nicht funktionie­rt, weil dies keine Realität ist …

Für unser Gehirn ist es zwar bedeutsam, aber nicht entscheide­nd, ob es nur ein Film im Fernsehen oder ein reales Erleben ist. Wenn wir einen Liebesfilm anschauen und mitweinen müssen oder aber uns mitfreuen, sind das Prozesse, die in unserem Körper passieren und auch in unserem Gehirn Spuren hinterlass­en. Handelt es sich um tiefere emotionale Erfahrunge­n und ist der Bezug da, entstehen tatsächlic­h neue Verknüpfun­gen im Gehirn, obwohl ich weiß, wie es wirklich war. Auch wenn die Ahnen „nur“in meiner Vorstellun­g erfolgreic­h waren, ihr Potenzial leben konnten, kann das wie eine Erlaubnis in meinem Gehirn für einen neuen Weg sein, den ich selber einschlage­n darf.

Ist es wichtig, auch die positiven Eigenschaf­ten der Ahnen zu berücksich­tigen?

Es ist sehr wichtig, dass wir nicht nur auf das Leid schauen – auch wenn aus jeder Krise auch eine Expertise erwächst. Tatsächlic­h wird uns nicht nur das Drama weitergege­ben, sondern die daraus resultiere­nden positiven Lebensstra­tegien und beispielsw­eise Warnungen, die uns schützen.

Was kann passieren, wenn transgener­ationale Traumata nicht gelöst werden? Verstärken sie sich dann?

Einerseits mache ich die Erfahrung in über 800 begleitete­n Ahnenreihe­n, dass jeder schon an einem wie ich es nenne „Heilserum“arbeitet – das ist das Prinzip der Evolution. Wir können sehen, dass sich jede Generation bemüht, Defizite durch dieses erlittene Leid zumindest wieder auszugleic­hen. Was nicht heißt, dass die Bemühungen von Erfolg gekrönt sind – es kann sein, dass diese Menschen aus Treue wieder scheitern. Ich kann mich aber bemühen, dass es immer besser wird. Allerdings geht das sehr langsam. Können Traumata nicht aufgelöst werden, kann es sein, dass sich das Thema eine Generation später wieder auflädt und/ oder dass es zu einer Verschlimm­erung kommt.

Wann ist die Unterstütz­ung von Experten angesagt?

Immer dann, wenn schwere traumatisc­he Erfahrunge­n im Spiel sind. Das sollte man keinesfall­s unterschät­zen.

 ?? FOTO: HILDEGARD NAGLER ?? Drei Frauenhänd­e aus drei Generation­en. Was hat die Großmutter ihrer Tochter mitgegeben, was diese ihrer Tochter?
FOTO: HILDEGARD NAGLER Drei Frauenhänd­e aus drei Generation­en. Was hat die Großmutter ihrer Tochter mitgegeben, was diese ihrer Tochter?

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