Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
„Wir tragen Erfahrungen unserer Vorfahren in uns“
In Familien werden Traumata zum Teil über Generationen weitervererbt – Welche Erfahrungen die Psychotherapeutin Sabine Lück damit gemacht hat und wie Heilung möglich wird, erklärt sie im Interview
Belastende Familienmuster können über Generationen weitergegeben werden und krank machen, sagt Psychotherapeutin Sabine Lück. Die Folgen: Betroffene leiden unter Ängsten, Depressionen und einer Vielzahl körperlicher Symptome. Sabine Lück hat ein Programm entwickelt, mit dessen Hilfe transgenerationale Traumata gelöst werden können. „Vererbtes Schicksal“lautet der Titel ihres neuen Buches. Im Gespräch mit Hildegard Nagler erläutert sie, wie wir belastende Familienmuster überwinden und unser wahres Potenzial befreien.
Frau Lück, eine junge Frau weigert sich, feste Nahrung zu sich zu nehmen. Stattdessen trinkt sie Unmengen von Wasser. Ein Fall aus Ihrer Praxis, den Sie in Ihrem Buch schildern. Was ist da passiert?
Lea, eine Patientin, ist mit circa zwölf Jahren in eine Magersucht gerutscht. Sie hat ständig das Gefühl, unrein zu sein und sich säubern zu müssen, um etwas loszuwerden, das nicht zu ihr gehört. Gemeinsam mit ihrer Mutter haben wir über Stammbaum-Arbeit herausgefunden, dass die Urgroßmutter um 1945 im Alter von 13 Jahren mitansehen musste, wie Soldaten eine Frau vergewaltigt haben. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass die Urgroßmutter dasselbe erlebt hat. Dieses Trauma der Urgroßmutter hat sich über Generationen weiter vererbt: Die Großmutter, also die Tochter jener Urgroßmutter, hat sogar Unterleibskrebs entwickelt. Die Mutter der Patientin hatte in ihrer Jugend Probleme mit ihrem Darm.
Immer wieder stellen wir fest, dass der Körper etwas Unverdautes über Generationen in sich trägt und sich manchmal erst viel später wie im Fall von Lea sehr heftige Symptome entwickeln. Dieses Beispiel macht deutlich, wie tief die Arbeit mit transgenerationalen Themen gehen und wie hilfreich sie auch sein kann. Nicht selten kommen Menschen mit derart heftigen Symptomen in Praxen. Immer wieder stellen wir fest, dass diese Symptomatik nicht ausreichend aus der Biografie dieser Menschen erklärt werden. Oft wiederholen sich Schicksalsschläge, und da ist man erstaunt, dass im gleichen Alter bestimmte Dinge in jeder Generation passiert sind. Wir gehen bei unserer Recherche deshalb mindestens bis zu den Urgroßeltern zurück. Manchmal kann es notwendig sein, dass man das Leben der Ururgroßeltern betrachtet, um die Gesamtzusammenhänge zu verstehen.
Warum kann Schicksal vererbt werden? Ist das wissenschaftlich belegt?
Sehr viele Untersuchungsergebnisse weisen darauf hin, dass wir in unserem Zellwissen Erfahrungen unserer Vorfahren in uns tragen. Das sogenannte Genom legt beispielsweise die Augenfarbe, die Haarfarbe und die Körpergröße fest. Das Epigenom entscheidet, welche Faktoren die Aktivität eines Gens und damit die Entwicklung
der Zelle über eine gewisse Zeit festlegen. Wir können uns das wie bei einem Klavier vorstellen. Es steht mit seinen schwarzen und weißen Tasten da. Wie es gespielt wird, bestimmt der Mensch, in diesem Fall der Musiker, die Musikerin. Laut einem anderen Erklärungsmodell geben wir Erfahrungen weiter, indem wir auf bestimmte Emotionen mit einem von alten Erfahrungen beeinflussten Verhalten reagieren. Von Traumata wissen wir, dass sie über Generationen weitergegeben werden können.
Wann empfehlen Sie, sich an die Lösung transgenerationaler Traumata zu machen?
Wenn wir unsere Kinder unverstellt sehen und keine Verwechslungen mit „alten“Familienthemen haben wollen, macht es für jeden Sinn, die eigene Biografie, seine Prägungen und die der Vorfahren zu kennen. Was haben sie uns mitgegeben an Werten, an Glaubenssätzen, an Lebensweisheiten, aber eben auch an einschränkenden Themen? Kennen wir sie, können wir sie zuordnen und, wenn es erforderlich ist, auflösen. Die meisten Menschen kommen aber erst dann, wenn sie oder ihre Kinder einen Leidensdruck haben, bestimmte Muster immer wieder erleben und wissen wollen, ob da noch mehr als die eigene Biografie eine Rolle spielt.
Sie sagen, dass bei vererbten Schicksalen sogenannte Treueverträge eine große Rolle spielen, die Kinder mit ihren Eltern abschließen, um sie von der Last der Vorfahren zu befreien. Wie muss man sich das vorstellen?
Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir darauf angewiesen, dass gute Bindungspersonen, in den meisten Fällen die Eltern, für uns sorgen. Dafür hat uns die Natur die Bindung mitgegeben. Wir wollen uns binden, die Eltern wollen für die Kinder sorgen. Diese Treueverträge mit der Mutter und dem Vater haben als Ziel, die Eltern zu stabilisieren, damit sie ihre Rolle als Eltern optimal ausfüllen können, obwohl sie selbst vielleicht verletzt wurden oder selber keine gute Bindung erfahren haben.
Was passiert dann?
Für einen solchen Fall hat die Natur dem Kind mitgegeben, dass es sich sehr feinfühlig auf die Eltern einstellen kann. Das bedeutet nicht, dass das Kind immer sonnig ist und strahlt. Es kann genauso gut sein, dass das Kind ein Schreibaby ist und so die Mutter aus ihrer Depression reißen will. Ein Kind kann sich derart in die Wunden und Defizite der Eltern einfühlen, dass es sogar Rollen für die Eltern übernimmt. Lebt beispielsweise der Bruder der Mutter nicht mehr, kann es sein, dass das Kind versucht, ihn zu ersetzen, um die Eltern zu heilen. In gewalttätigen Beziehungen können Kinder eine Vorbildfunktion übernehmen. Ist die Mutter schwach, der Vater dominant und gewalttätig, kann sich ein Kind vor dem Vater aufbauen und ihm mutig entgegentreten. Als wollte es der Mutter sagen: So musst du dich wehren. Es kann auch sein, dass sich Kinder für die Erfüllung der Bedürfnisse ihrer Eltern zur Verfügung stellen. Der Vater hätte gerne Fußball gespielt, konnte das aber nicht, weil sich sein Vater nicht um ihn gekümmert hat. Also bringt er seinen Sohn jedes Wochenende zum Fußballspielen und merkt dabei gar nicht, dass dieser lieber Geige spielen würde.
Ihre positive Nachricht ist, dass es Heilung gibt. Wie kann sie geschehen?
Als systemische Therapeutinnen kennen meine Kollegin Ingrid Alexander und ich die klassische Aufstellungsarbeit, der zufolge man bestimmte Aufträge oder Rollen an die Eltern oder beispielsweise die Großeltern zurückgibt. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass das nicht ausreicht: Vorher müssen wir erleben, dass die Ahnen, die Ahninnen versorgt sind. Dazu bedienen wir uns einer faszinierenden Möglichkeit des Gehirns: Auf der emotionalen Ebene gibt es kein Zeitgeschehen. Rufen wir beispielsweise ein Gefühl ab, das wir als Zehnjährige erlebt haben, erleben wir es so, als passiere es jetzt. Wir machen eine Aufstellungsarbeit, in der das eventuell schon vor Generationen erlebte Drama zwar deutlich wird, dann aber sehr schnell eine Heilung stattfindet. Dabei stellen wir uns die idealen Personen, ideal versorgte Eltern, ideale Umstände vor, erleben dies als Zeugen mit. Dadurch entsteht eine neue Idee in unserem Kopf. Was wäre aus dem durch den Krieg verhärteten Großvater geworden, hätte er den Krieg nicht erleben müssen? Ist dieses neue Bild glaubhaft, kann es eine ganze Familie verändern. Der Mensch, der diese Aufstellung macht, kann mit diesem alternativen Wissen bisherige Glaubenssätze hinterfragen und sein Leben entsprechend verändern.
Sich optimal versorgte Ahnen vorzustellen, ist Teil des Heilungsprozesses. Dann, sagen Sie, gibt es keine Veranlassung mehr für den Treuevertrag, da es auch keine Wunden mehr gibt. Kritiker könnten einwenden, dass das nicht funktioniert, weil dies keine Realität ist …
Für unser Gehirn ist es zwar bedeutsam, aber nicht entscheidend, ob es nur ein Film im Fernsehen oder ein reales Erleben ist. Wenn wir einen Liebesfilm anschauen und mitweinen müssen oder aber uns mitfreuen, sind das Prozesse, die in unserem Körper passieren und auch in unserem Gehirn Spuren hinterlassen. Handelt es sich um tiefere emotionale Erfahrungen und ist der Bezug da, entstehen tatsächlich neue Verknüpfungen im Gehirn, obwohl ich weiß, wie es wirklich war. Auch wenn die Ahnen „nur“in meiner Vorstellung erfolgreich waren, ihr Potenzial leben konnten, kann das wie eine Erlaubnis in meinem Gehirn für einen neuen Weg sein, den ich selber einschlagen darf.
Ist es wichtig, auch die positiven Eigenschaften der Ahnen zu berücksichtigen?
Es ist sehr wichtig, dass wir nicht nur auf das Leid schauen – auch wenn aus jeder Krise auch eine Expertise erwächst. Tatsächlich wird uns nicht nur das Drama weitergegeben, sondern die daraus resultierenden positiven Lebensstrategien und beispielsweise Warnungen, die uns schützen.
Was kann passieren, wenn transgenerationale Traumata nicht gelöst werden? Verstärken sie sich dann?
Einerseits mache ich die Erfahrung in über 800 begleiteten Ahnenreihen, dass jeder schon an einem wie ich es nenne „Heilserum“arbeitet – das ist das Prinzip der Evolution. Wir können sehen, dass sich jede Generation bemüht, Defizite durch dieses erlittene Leid zumindest wieder auszugleichen. Was nicht heißt, dass die Bemühungen von Erfolg gekrönt sind – es kann sein, dass diese Menschen aus Treue wieder scheitern. Ich kann mich aber bemühen, dass es immer besser wird. Allerdings geht das sehr langsam. Können Traumata nicht aufgelöst werden, kann es sein, dass sich das Thema eine Generation später wieder auflädt und/ oder dass es zu einer Verschlimmerung kommt.
Wann ist die Unterstützung von Experten angesagt?
Immer dann, wenn schwere traumatische Erfahrungen im Spiel sind. Das sollte man keinesfalls unterschätzen.