Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
„Wir haben alles verloren“
Mehr als 200 Tote bei schwerem Beben in Mexiko – 44 Gebäude in der Hauptstadt komplett zusammengefallen
MEXIKO-STADT - Am Morgen danach lag eine seltsame Ruhe über der Condesa. In den Straßen des Hauptstadtviertels, das weitgehend vom Beben verschont blieben, versuchten die Menschen schnell zur Tagesordnung überzugehen. Auf der Avenida Tamaulipas räumten die Straßenfeger wie jeden Morgen den Dreck der Nacht weg, Zeitungskioske öffneten, die Menschen fuhren zur Arbeit. Nur das Verkehrsaufkommen war ungewöhnlich gering, so wie sonst nur an Feiertagen. Schulen und Behörden blieben geschlossen. Auch viele private Arbeitgeber hatten ihren Angestellten am Morgen nach der Katastrophe freigegeben. Entweder weil die Gebäude beschädigt waren, oder damit sie sich von dem Wahnsinn des Vortags erholen konnten.
Ein Erdbeben der Stärke 7,1 hatte Mexiko-Stadt und die angrenzenden Bundesstaaten heimgesucht und mindestens 224 Menschen getötet – eine Zahl, bei der es wohl leider nicht bleiben wird. Mehrere Zehntausende Gebäude wurden zerstört oder trugen Schäden davon. Das Epizentrum des Bebens lag bei Axochiapan im Bundesstaat Puebla, nur rund 120 Kilometer südöstlich von MexikoStadt entfernt.
Nur wenige Meter von der Avenida Tamaulipas entfernt suchten die Helfer und Anwohner die ganze Nacht nach Überlebenden im Gebäude an der Ecke der Straßen Laredo und Avenida Amsterdam. Dort war ein ohnehin schon vor dem Beben beschädigtes Wohnhaus bei dem Beben binnen Sekunden zusammengefallen wie ein Kartenhaus.
Mit bloßen Händen
Die Retter hoben Trümmerteile mit bloßen Händen und trugen sie fort. Alles möglichst leise, um zu hören, ob noch Lebenszeichen unter den Schuttbergen zu hören waren. In anderen Gebäuden suchten Feuerwehrleute mit Laternen und völlig von Staub bedeckt nach möglichen Anwohnern. „Wir müssen Haus zu Haus abgehen, um zu sehen, ob es noch eingeschlossene oder bewegungsunfähige Menschen gibt“, sagte Omar Castro. Hunderte Menschen hatten in Mexiko-Stadt ihre beschädigten Häuser verlassen und die Nacht im Freien oder bei Freunden oder Angehörigen verbracht.
Jessica Cervantes stand mit ein paar Habseligkeiten in der Hand auf der Straße und konnte nicht aufhören zu weinen: „Wir haben alles verloren, unsere Wohnung, unsere Kleidung, alles, für das wir unser Leben lang gearbeitet haben.“
So wie hier in der Condesa sah es in vielen Stadtteilen der 20-Millionen-Metropole aus. Die ganze Nacht über schleppten Zivilschutz, Soldaten, Nachbarn und freiwillige Helfer Schutt und Trümmer aus den 44 Gebäuden von Mexiko-Stadt, die bei dem Beben am Dienstag um 13.15 Uhr komplett zusammengefallen waren. Mit Spaten und Spitzhacken versuchten sie, Gänge zu öffnen, mit Taschenlampen oder teilweise Feuerzeugen beleuchteten sie die gespenstische Szenerie, wenn keine großen Lampen verfügbar waren. Mitunter wiesen Whatsapp-Nachrichten den Rettern den Weg zu Verschütteten.
Bis zum frühen Mittwochmorgen bestätigten die Behörden landesweit 224 Tote, 86 davon in der Hauptstadt. Wie die Zivilschutzbehörde des Landes mitteilte, stammen die meisten der bislang geborgenen Toten aber aus dem südlich an Mexiko-Stadt grenzenden Bundesstaat Morelos. Das Epizentrum des Bebens lag nur gut 120 Kilometer südöstlich von Mexico City im Bundesstaat Puebla.
In einer Grundschule im Stadtteil Coapa im Süden der Stadt konnten sich 300 Kinder und Lehrer rechtzeitig in Sicherheit bringen, aber 21 Schüler und vier Erwachsene der Grundschule „Enrique Rebsamen“wurden unter den Trümmern begraben. Verzweifelte Eltern harren noch immer vor den teilweise eingestürzten Klassenräumen aus, denn 30 Menschen werden noch vermisst.
Order an alle Krankenhäuser
Präsident Enrique Peña Nieto ordnete an, dass alle Krankenhäuser Verletzte aufnehmen müssen, selbst wenn sie keine Versicherung und keine Kreditkarte haben, um für die Behandlungskosten aufzukommen. Die Schulen und Universitäten in Mexico City blieben geschlossen und wurden erst einmal von Ingenieuren und Statikern auf mögliche Schäden untersucht.
40 Prozent von Mexiko-Stadt und 60 Prozent des angrenzenden Bundesstaates Morelos lagen in der Nacht zu Mittwoch im Dunkeln, wie der Präsident in einer landesweit übertragenen Rede ergänzte. Das Telefonnetz brach über mehrere Stunden zusammen, auch das Internet fiel zeitweise komplett aus. „Mexiko teilt das Leid der Opfer“, unterstrich Peña Nieto, vermied es dabei aber, eine vorläufige Zahl der Toten zu nennen. Jetzt gelte es, den Verletzten zu helfen und Verschüttete zu bergen.
Das Erdbeben suchte MexikoStadt an einem historischen Tag heim. Auf den Tag genau vor 32 Jahren, am 19. September 1985, bebte die Erde in Mexiko-Stadt und zerstörte große Teile der Metropole. Damals starben mehr als 10 000 Menschen.
Um 11 Uhr morgens am Dienstag war ganz Mexiko-Stadt auf die Straße gerannt. Zum 32. Jahrestag des verheerenden Erdbebens hatte die Regierung zu einer Erdbebenübung gerufen. Die Sirenen heulten einige Minuten, und die Menschen bewegten sich geordnet an die vorgesehenen Sicherheitsstellen. Um 13.15 Uhr schlug der Alarm erneut an, diesmal aber war es keine Übung. Die Erde begann sich in Wellen zu bewegen, die Gebäude schwankten wie Bäume im Wind. Scheiben barsten, die Menschen liefen auf die Straßen, Panik stand ihnen in den Gesichtern.