Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Wirtschaft fürchtet Hängepartie
Verbandsvertreter und Firmenchefs mahnen rasche Regierungsbildung an – Vorschusslorbeeren für Koalition aus Union, FDP und Grünen
RAVENSBURG - Nach der Bundestagswahl dringen Vertreter von Wirtschaft und Banken auf eine rasche Regierungsbildung und einen Investitionspakt. Mit Blick auf mögliche Gespräche über ein Jamaika-Bündnis von Union, FDP und Grünen mahnten Verbände am Montag in Berlin ein stabiles Regierungsbündnis an – und sahen in Schwarz-GelbGrün auch Chancen. „Der Wahlausgang macht die Regierungsbildung nicht leicht. Wir brauchen in diesen schwierigen Zeiten eine stabile Regierung“, sagte DIHK-Präsident Eric Schweitzer am Montag. Er forderte einen „Koalitionsvertrag für mehr Investitionen“. Die wirtschaftliche Lage in Deutschland sei gut. Aber die Betriebe machten sich Sorgen, ob dies so bleibe: „Auf vielen wichtigen Zukunftsfeldern registrieren die Unternehmen mehr Stillstand als Aufbruch.“
Jamaika-Koalition als Chance
Ähnlich äußerte sich auch Rainer Dulger, Präsident der Arbeitgeber Baden-Württembergs. „Die neue Bundesregierung muss wieder mehr Wirtschaft wagen. Insbesondere erwarte ich, Transformationsprozesse wie Digitalisierung oder Dekarbonisierung als Chancen zu begreifen, mit einer mutigen Rahmensetzung diese Chancen auch zu ermöglichen, anstatt sie mit Verboten einzuengen“, sagte Dulger in einer ersten Reaktion auf den Wahlausgang. Er appellierte an die demokratischen Parteien, nun ihre Verantwortung wahrzunehmen und an einem verlässlichen Regierungsbündnis mitzuwirken.
Landeshandwerkspräsident Rainer Reichhold sprach ebenfalls von einer schwierigen Regierungsbildung und Herausforderungen durch ein Sieben-Parteien-Parlament, sah jedoch auch Chancen bei Kernthemen. Die zur Diskussion stehende Jamaika-Koalition sei zwar wenig berechenbar weise aber inhaltlich gute Ansatzpunkte für die Anliegen des Handwerks auf – namentlich bei Klimaschutz, Bildung, Digitalisierung und Migration. „Nun gilt es, diese Schnittmengen in den Fokus zu stellen“, so Reichhold. Für die privaten Banken ist eine Koalition aus Union, FDP und Grünen „keine Notlösung“. Sie sollte vielmehr als Chance begriffen werden, meinte der Hauptgeschäftsführer des Bankenverbandes, Michael Kemmer: „Ein solches Projekt kann den Standort Deutschland stärken, denn zentrale Zukunftsthemen wie Digitalisierung, Bildung und Integration würden sicherlich in den Mittelpunkt der Regierungsarbeit rücken.“Gerade hier scheine die Übereinstimmung bei SchwarzGelb-Grün größer zu sein als der Gegensatz.
Kritik an der Entscheidung der SPD äußerte der Chef der Erwin-Hymer-Gruppe, Martin Brandt. „Mich hat sehr überrascht, dass die SPD bereits am Wahlabend erklärt hat, in die Opposition gehen zu wollen. Vor allem auch deswegen, weil die Sozialdemokraten als zweitstärkste Kraft immer auch eine Verantwortung für das Land tragen und nicht nur für ihre Partei“, sagte Brandt im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Der Manager mahnte rasche Gespräche über ein mögliches JamaikaBündnis an. „Die Zeit der Unsicherheit ist für die Wirtschaft am negativsten. Wir brauchen klare und verlässliche Ansagen“, so Brandt.
Selbstkritik nach AfD-Erfolg
Erschrocken äußerten sich viele Wirtschaftsvertreter über das Abschneiden der AfD. „Das ist für mich sowohl aus politischer als auch aus wirtschaftlicher Sicht schwer erträglich und eine Hypothek für unser Land“, sagte Arbeitgeberpräsident Dulger. Siemens-Chef Joe Kaeser kreidete die Stimmengewinne zum Teil auch den Eliten im Lande an. Mit der AfD habe es eine „national-populistische Partei fulminant ins Parlament geschafft“, meinte der Konzernlenker am Montag in München. „Das ist auch eine Niederlage der Eliten in Deutschland.“
Die Wähler der Partei seien als Menschen am Rande der Gesellschaft abgetan worden. „Wir haben wieder zugeschaut, und das muss sich ändern“, so der Siemens-Chef. Es müsse die Aufgabe von allen sein, Menschen, die sich zurückgesetzt fühlten, einzubinden und ihnen Perspektiven zu geben. Für den Wohlstand im Lande, den Zusammenhalt der Gesellschaft und für Frieden und Freiheit sei genau das letztlich entscheidend.