Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Deutschland sucht die Radsport-Kultur
Trotz stetigen Aufwindes – Blick in die Zukunft offenbart genügend Baustellen
BERGEN (SID) - Tony Martin suchte die Ruhe bei einem kurzen Angelurlaub mit der Familie, einige Teamkollegen erkundeten nach Abschluss der Straßenrad-WM noch das Nachtleben in Bergen, bevor sie ihre Koffer für die Heimreise packten. Das letzte Saisonhighlight hatte so manche Enttäuschung gebracht, insgesamt war die Saison 2017 für den deutschen Radsport dennoch ein weiterer Fortschritt. Der Auftakt der Tour de France in Düsseldorf mit Millionenpublikum, die Siege von Sprintstar Marcel Kittel, die Aussicht auf die Renaissance der Deutschland-Tour im kommenden Jahr – es hat sich einiges getan. Doch ein tief greifender Effekt ist noch nicht zu spüren.
„Wir hatten einen Ullrich-Boom, wir hatten einen Thurau-Boom, wir hatten einen Altig-Boom, aber es ist bisher nie gelungen, eine RadsportKultur aufzubauen“, sagte Patrick Moster, Sportdirektor beim Bund Deutscher Radfahrer (BDR). Anders als etwa in Großbritannien.
Die Ablehnung in der Öffentlichkeit, den Medien und bei Sponsoren schwinde zwar weiterhin, doch gewisse Akzeptanzprobleme hat der Radsport noch immer. Es zeigt sich etwa an der fehlenden Zahl großer, internationaler Etappenrennen in Deutschland. „Es ist erschreckend, wenn man in den internationalen Kalender schaut. 2017 gab es bei den Profis gar nichts“, stellt Moster heraus. Immerhin: „Der Grand Départ in Düsseldorf hat gezeigt, wir sind auf einem sehr gutem Weg. Er war ganz wichtig für eine positive Grundstimmung.“
Dieser Trend könnte auch der Deutschland-Tour helfen, die im besten Falle laut Moster „Sogwirkung“ entfaltet. In Kürze werden Details zur Neuauflage erwartet, von der offiziell bisher nur bekannt ist, dass sie in Stuttgart endet und vom 23. bis 26. August 2018 stattfinden soll. Immer wieder ist in der Branche zu hören, dass vor allem die Sicherheitskosten Städte abschrecken und der Rundfahrt Anlaufprobleme bereiten. Während die Auswirkungen der großen Depression nach den Jahren der hemmungslosen Jan-Ullrich-Euphorie mit Verzögerung kamen, dauert es nun umgekehrt ebenfalls lange, bis ein neues Radsport-Fundament stabil steht.
Deshalb betrachtet Moster auch eine Bewerbung für eine StraßenradWM, etwa für das Jahr 2022, als verfrüht, wenngleich er die Idee reizvoll findet. Die Bahnrad-EM in Berlin im Oktober und die WM in drei Jahren seien erste Schritte. „Eine WM auf der Straße wäre für uns natürlich das Größte“, sagt der 50-Jährige, zumal Bergen, zumal die Norweger ein leuchtendes Beispiel abgaben. „Wenn wir bei der Deutschland-Tour eine ähnliche Atmosphäre wie hier erleben, wäre das großartig“, meint Simon Geschke, der unlängst auch die Probleme im Nachwuchs und die fehlenden Rennen angesprochen hatte.
„Vor 15 Jahren hatten wir noch eine breitere Masse an Talenten“, sagt Moster. Umso wertvoller ist ein Hochbegabter wie der 21-jährige Lennard Kämna, sind andere Nachwuchshoffnungen wie die Sprinter Phil Bauhaus oder Pascal Ackermann und Zeitfahr-Talent Max Schachmann, sind anhaltende Erfolge von Kittel und Co. Denn bis die Akzeptanz wieder ein wirklich breites Publikum erfasst, ist noch einiges an Überzeugungsarbeit nötig.