Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Einheitsfeier in gedämpfter Stimmung
Bundespräsident Steinmeier beschwört in Mainz den Zusammenhalt der Gesellschaft
MAINZ/BERLIN - Sanddornlikör aus Mecklenburg-Vorpommern und Original VW-Wurst aus Niedersachen, die Klänge einer Dixie-Band aus Köln und Seemannslieder aus Schleswig-Holstein: Ein fröhliches Bürgerfest unter dem Motto „Zusammen sind wir Deutschland“haben sich die Veranstalter der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in Mainz vorgenommen.
Und doch ist in Zeiten ständiger Terrorgefahr und gerade einmal zehn Tage nach dem Absturz der Volksparteien bei der Bundestagswahl manches anders, als bei früheren Einheitsfeiern. Das Land RheinlandPfalz, als Vorsitzland des Bundesrats Gastgeber der Feier, hat 7400 Polizisten in die Landeshauptstadt geschickt. Straßen wurden mit Betonsperren blockiert. Zwischen Dom und Rheingoldhalle, wo Spitzenpolitiker aus Bund und Ländern zu Gottesdienst und Staatsakt zusammenkommen, sind Anwohner eindringlich gebeten worden, sich in Fensternähe nicht verdächtig zu verhalten.
In der Rheingoldhalle selbst mahnt der Bundespräsident zur Wachsamkeit, beschwört den Zusammenhalt der Gesellschaft. FrankWalter Steinmeier warnt aber auch davor, dass es kein „Abhaken und Weiter so“geben dürfe, nicht im Umgang mit enttäuschten Wählerinnen und Wählern, aber auch nicht in der Flüchtlingspolitik.
Warnung vor schrillen Tönen
„Die große Mauer quer durch unser Land ist weg“, sagt das Staatsoberhaupt am Dienstag in der Rheingoldhalle, 27 Jahre nachdem Ost- und Westdeutschland wieder vereint wurden. Doch zeige das Ergebnis der Bundestagswahl vom 24. September: „Es sind andere Mauern entstanden, weniger sichtbare, ohne Stacheldraht und Todesstreifen.“
Ohne die AfD zu nennen, spricht Steinmeier ihren Wahlerfolg doch an und warnt, dass „Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung und Wut“bei manchen so fest geworden seien, dass Argumente nicht mehr durchdrängen. So gebe es auch Mauern zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, offline und online, Mauern im Internet, „wo der Ton immer lauter und schriller wird“.
„Hinter diesen Mauern wird tiefes Misstrauen geschürt, gegenüber der Demokratie und ihren Repräsentanten“, beklagt der Bundespräsident. Nicht alle, die sich abwendeten, seien Feinde der Demokratie, doch sie fehlten der Demokratie und müssten zurückgewonnen werden. Man müsse beweisen, dass Argumente weitertragen würden als die Parolen der Empörung.
Es ist die erste Rede Steinmeiers als Staatsoberhaupt zum Tag der Einheit, dem 3. Oktober, und sie steht ganz im Zeichen der Bundestagswahl vor zwei Wochen, den Ursachen für das Ergebnis und den Einzug der AfD ins Parlament und den möglichen Folgen. „Die Debatten werden rauer, die politische Kultur wird sich verändern“, befürchtet Steinmeier.
„Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich“, hatte Steinmeiers Amtsvorgänger Joachim Gauck vor zwei Jahren auf eine begrenzte Aufnahmekapazität von Flüchtlingen hingewiesen und vor Überforderung gewarnt. Jetzt spricht sich auch Steinmeier für Korrekturen in der Flüchtlingspolitik aus. Es sind neue Töne vom Staatsoberhaupt: „Wir müssen uns ehrlich machen, welche und wie viel Zuwanderung wir wollen und vielleicht sogar brauchen“, sagt Steinmeier und spricht sich indirekt für ein Einwanderungsgesetz aus. Um die Polarisierung in der Flüchtlingsdebatte zu überwinden brauche man legale Zugänge, Steuerung und Kontrolle. Es gelte, „die Wirklichkeit der Welt und die Möglichkeiten unseres Landes übereinzubringen“, so der Bundespräsident, der auch Integration einfordert und die Migranten in die Pflicht nimmt. „Heimat ist offen, aber nicht beliebig“, sagt er und mahnt zur Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Werten. Und er ergänzt, auch in Richtung der AfD: Die Verantwortung vor unserer Geschichte kenne keine Schlussstriche, „erst recht nicht für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages“. Wieder gibt es starken Beifall.
Sehnsucht nach Heimat
Die Debatte über Flucht und Migration habe die Menschen aufgewühlt, sei Abbild einer aufgewühlten Welt, erklärt der Präsident. Wenn Menschen sagten, sie würden ihr Land nicht mehr verstehen, sich fremd im eigenen Land fühlen, „dann gibt es etwas zu tun in Deutschland“. Hinter solchen Ängsten und Unsicherheiten stehe auch eine Sehnsucht nach Orientierung und Heimat, die man nicht den Nationalisten überlassen dürfe. „Heimat weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit“, erklärt Steinmeier.
Einen nachdenklichen Akzent hatte am Vorabend die evangelische Kirche gesetzt. Die Protestanten hatten zu einer „Nacht der Freiheit“in die Christuskirche geladen. An alle Besucher wurden weiße Bänder mit den Namen gewaltloser politischer Gefangener verteilt, etwa dem des ägyptischen Fotojournalisten Mahmoud Abu Zeid. Den Deutschen, die mittlerweile in Freiheit leben, dürfe das Schicksal von Häftlingen anderswo nicht gleichgültig bleiben, sagt dazu Pfarrer Wolfgang Weinrich.
Nach Abschluss der Feier ziehen die Gastgeber am Dienstagabend eine positive Bilanz. „Ich bin überglücklich, es war ein tolles Fest“, sagt Ministerpräsidentin Malu Dreyer – fast klingt es erleichtert. Pöbeleien wie noch 2016 in Dresden, als die Teilnahme am Festakt für Politiker zum Spießrutenlauf geraten war, gibt es in Mainz nicht. Dennoch ist es ein Tag von eher gedämpfter Freude, gibt es nicht nur Zuversicht, sondern auch Sorge und Zweifel.