Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Staatsanwaltschaft beantragt Freilassung von Steudtner
Prozessbeginn in Istanbul – Angeklagter Menschenrechtler bestreitet Vorwürfe
ISTANBUL/RAVENSBURG - Nach mehr als drei Monaten Untersuchungshaft hat die türkische Staatsanwaltschaft überraschend die Freilassung des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner gefordert. Der Staatsanwalt in Istanbul sprach sich am Mittwochabend dafür aus, Steudtner, seinen schwedischen Kollegen Ali Gharavi und mehrere türkische Menschenrechtler unter Auflagen bis zu einem Urteil in dem Prozess wegen Terrorvorwürfen auf freien Fuß zu setzen. Das Gericht wollte nach einer Sitzungsunterbrechung über den Antrag der Staatsanwaltschaft und über mögliche Auflagen entscheiden.
Unklar war daher zunächst, ob das Gericht im Fall der Entlassung von Steudtner und Gharavi aus der Untersuchungshaft eine Ausreisesperre verhängt oder ob die beiden Ausländer die Türkei verlassen können. Die Bundesregierung fordert die Freilassung Steudtners.
Zum Auftakt des Prozesses wies der Berliner alle Terrorwürfe zurück. „Ich habe nie in meinem Leben irgendeine militante oder terroristische Organisation unterstützt“, sagte der 45-Jährige vor dem Istanbuler Gericht. Die Bundesregierung erklärte, sie hoffe auf ein rechtsstaatliches Verfahren. „Die Türkei verweist stets auf die Unabhängigkeit ihrer Justiz. Das respektieren wir“, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes in Berlin. Als Mitglied des Europarates sei die Türkei menschenrechtlichen Standards unterworfen.
Vorgeworfen wird den Aktivisten „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“und die „Unterstützung von bewaffneten Terrororganisationen“, unter anderem der Kontakt zu Organisationen wie der Gülen-Bewegung, der kurdischen Arbeiterpartei PKK und der kommunistischen DHKP/C. Ihnen drohen jeweils bis zu 15 Jahre Haft. Die Anklage stützt sich auf zum Teil anonyme Zeugenaussagen. Zu den Angeklagten zählen auch der Vorstandssprecher der türkischen Sektion der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, Taner Kilic, sowie Amnesty-Direktorin Idil Eser.
Amke Dietert, von der Türkei-Koordinationsgruppe der deutschen Amnesty-Sektion, hält die Anklage für zweifelhaft. „Es wird mit völlig absurden Konstruktionen und ohne jegliche Grundlage der Vorwurf erhoben, sie seien Mitglieder in einer terroristischen Vereinigung oder hätten terroristische Vereinigungen unterstützt“, sagte Dietert der „Schwäbischen Zeitung“. Der Prozess wird in Deutschland auch als Testfall für den Rechtsstaat in der Türkei gewertet – und für die Beziehungen zu Ankara.
ISTANBUL - Ein türkisches Gericht hat die Freilassung des deutschen Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner aus der Untersuchungshaft angeordnet. Auch sieben weitere angeklagte Menschenrechtler sollen freikommen, wie das Gericht in Istanbul am Mittwochabend entschied. Unter ihnen sind die Direktorin von Amnesty International in der Türkei, Idil Eser, und der schwedische IT-Spezialist Ali Gharavi.
Doch was mag Peter Steudtner zuvor wohl durch den Kopf gegangen sein: Da steht er nach mehr als hundert Tagen in türkischer Untersuchungshaft zum ersten Mal vor dem Richter – und muss sich mit bizarren Vorwürfen über einen „Elefanten“befassen. Die regierungstreue Presse hat den Menschenrechtler als feindlichen Agenten abgestempelt, der unter anderem mit einem deutschen Überwachungsprogramm namens „Elefant“gearbeitet haben soll. Steudtner habe das alles gestanden, hatte die Zeitung „Star“schon im Juli verkündet – nicht der einzige surreal anmutende Aspekt des Prozesses, der am Mittwoch im Justizpalast im Istanbuler Stadtteil Caglayan begonnen hat.
Vor dem Richter erläutert Steudtner, gemeint sei wohl „Elefand“– die Abkürzung steht für die Elektronische Erfassung von Deutschen im Ausland, ein Angebot des Auswärtigen Amtes, um bei Katastrophen wie Erdbeben betroffene Bundesbürger möglichst rasch kontaktieren oder evakuieren zu können. Wie viele Deutsche im Ausland hatte sich auch Steudtner, der in vielen Ländern der Welt gearbeitet hat, dort registriert. Geheim oder subversiv ist an „Elefand“überhaupt nichts. Mit einem Blick ins Internet oder einem Gespräch mit deutschen Diplomaten hätte das auch die türkische Staatsanwaltschaft leicht in Erfahrung bringen können. Aber das hätte nicht ins Bild gepasst.
Dieses Bild der Anklage sah bislang ungefähr so aus: Zusammen mit anderen Menschenrechtlern trifft sich Steudtner Anfang Juli zu einer Geheimsitzung auf der Insel Büyükada, um allerhand staatsfeindliche Gruppen in der Türkei zu einem Aufstand gegen die Regierung anzustacheln. Unterstützt worden seien dabei die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, die kurdische Terrororganisation PKK und die linksextreme DHKP-C-Organisationen, die sich ideologisch gegenseitig spinnefeind sind.
Fünf bis 15 Jahre Haft
Für Peter Steudtner, der sich bis zu seinem Besuch auf Büyükada nicht eingehend mit der Türkei befasst hatte, sind die Namen und Abkürzungen ein Rätsel: Bis zu seiner Festnahme habe er nur von zwei der drei Gruppen überhaupt gehört – und das auch nur in den Nachrichten, sagt er vor dem Richter. Wie er Organisationen geholfen haben soll, die er nicht einmal kannte, bleibt ein Geheimnis der Staatsanwälte. Das Konstrukt bildete einen wichtigen Bestandteil der Anklageschrift, in der für Steudtner und neun weitere Angeklagte jeweils fünf bis zehn Jahre Haft gefordert wird; für den elften Angeklagten, den Türkei-Vorsitzenden von Amnesty International, Taner Kilic, verlangt die Staatsaanwaltschaft sogar 15 Jahre.
Anschuldigungen von Erdogan
Einige Schuldvorwürfe gründen auf den Aussagen eines Übersetzers, der für den Workshop der Menschenrechtler auf Büyükada angeheuert worden war. Bei dem Seminar ging es unter anderem um Datensicherheit für Menschenrechtsaktivisten – der Dolmetscher vermutete staatsfeindliche Aktivitäten und ging zur Polizei. Aus dem harmlosen Treffen von Aktivisten wurde so in den Augen des türkischen Staates eine Besprechung von Umstürzlern. Präsident Recep Tayyip Erdogan ließ das Gericht schon vor Monaten wissen, was seiner Meinung nach in dem Fall zu tun ist: Erdogan beschuldigte die Menschenrechtler, sie hätten nach dem gescheiterten Putsch vom vergangenen Jahr einen neuen Staatsstreich vorbereiten wollen.
Im Gerichtssaal von Caglayan spielt die Übersetzung am Mittwoch eine wichtige Rolle. Noch während Steudtner spricht, gibt es Proteste im Saal: Bei der Übersetzung des deutschen Angeklagten ins Türkische gebe es viele Fehler und Unstimmigkeiten, kritisieren Anwälte und ProzessZuschauer, die beider Sprachen mächtig sind. Der 45-jährige Berliner beantragt vor Gericht seine sofortige Freilassung. Berlin hat klargemacht, dass eine Normalisierung des Verhältnisses nur bei Freilassung von Häftlingen wie Steudtner oder Deniz Yücel möglich sein wird. Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel sitzt seit Februar ohne Anklage in Haft. Eine Freilassung der Ulmer Übersetzerin Mesale Tolu lehnt die türkische Justiz bisher ebenfalls ab.