Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Zur Person
Eine große Debatte haben wir zuletzt 2013 erlebt, ausgehend von Rainer Brüderle und seinem Umgang mit der Journalistin Laura Himmelreich. Die #metoo-Kampagne, bei der sich jüngst betroffene Frauen auf Twitter aus der Deckung wagten, zeigt: Sexuelle Belästigung gibt es überall. Das belegen auch die aktuellen Fälle von EU-Politikerinnen, die von Belästigung im parlamentarischen Umfeld berichten. Jede Frau kann betroffen sein. Männer trifft es teilweise auch, aber Frauen sind einfach in so großem Maße betroffen, dass sich das auf alle Branchen und Kontexte verteilt. Es gibt Zahlen aus großen repräsentativen Studien, denen zufolge in Deutschland um die 60 Prozent der Frauen betroffen sind.
Was glauben Männer, was sie zu solchen Grenzüberschreitungen „berechtigt“?
Macht spielt eine wichtige Rolle. Eine Machtposition verleitet stärker dazu, dass jemand denkt: „Das nehme ich mir, weil ich es mir leisten kann.“Doch dafür reicht manchmal schon aus, dass der Mann sich stärker fühlt als die Frau. Es muss nicht der Chef sein. Es gibt Statistiken, denen zufolge sexuelle Belästigung unter gleichrangigen Personen häufiger auftritt, unter Kollegen oder im Privaten auch unter Freunden. Das Machtgefälle muss es gar nicht mal geben. Umgebungen, in denen Macht eine Rolle spielt, begünstigen solches Verhalten aber natürlich.
Im Fall Weinstein wussten viele Menschen Bescheid, haben aber stillgehalten. Welche Rolle spielt Kumpanei unter Männern dabei?
Ich kann mir vorstellen, dass Männer aufgrund eines Gruppengefühls zueinander halten und sich nicht gegenseitig verraten. Bei Weinstein stellte sich heraus, dass auch Männer, die etwas wussten, von ihm profitiert haben. Man müsste in der Forschung darüber nachdenken, wie Das hat schwerwiegende Konsequenzen, wie die Forschung zeigt. Sexuelle Belästigung führt zu Angst, Unsicherheit und psychosomatischen Beschwerden. Andere Studien verdeutlichen, dass Krankheiten wie Essstörungen, Alkoholmissbrauch und Depressionen auch mit sexueller Belästigung zusammenhängen können. Das sind aber Fälle, in denen es nicht bei einem einmaligen Erlebnis bleibt. Je extremer die Belästigung, desto schlimmer sind die Konsequenzen. Vergewaltigungsopfer leiden ihr Leben lang.
Oft wird Opfern eine Mitschuld gegeben. Was sagt die Wissenschaft zum „victim blaming“?
In der Sozialpsychologie spricht man da von „Mythen“, Erklärungen, die eben einfach nicht stimmen, so was wie „Die hat das doch provoziert“. Den Betroffenen wird mitunter auch unterstellt, sie wollten Männern etwas anhängen und schaden. Mythen festigen natürlich den Status Quo, denn durch sie hat man zwar eine relativ einfache Erklärung, muss aber nicht wirklich aktiv werden. Wenn die Frauen sich – wie in Mythen gefordert – hochgeschlossener anziehen, dann ändert das nichts an den Strukturen und an dem Problem, dass Männer sich etwas nehmen, was sie nicht dürfen. Frauen tragen solche Mythen ebenfalls weiter, teils auch aus Selbstschutz. So ordnen manche Frauen ihresgleichen in zwei Kategorien ein. Den einen kann so etwas passieren, weil sie selbst die Auch dazu gibt es Studien, eine stammt von meiner früheren Kollegin an der Uni Bielefeld. Resultat: In der konkreten Situation ist es ziemlich unrealistisch, sich zu wehren. Frauen schaffen es selten, den Täter zu konfrontieren. In der Studie meiner Kollegin gab es zwei Untersuchungsgruppen: Die eine Gruppe von Frauen wurde befragt, wie sie hypothetisch in einer Belästigungssituation reagieren würde. Alle sagten, dass sie sich wehren würden und den Belästiger konfrontieren würden. Die andere Gruppe wurde in dieser Laborstudie der Situation tatsächlich ausgesetzt. In einem Chat bekamen sie sexistische Witze geschickt, aber alle brachten die Studie zu Ende und beschwerten sich nicht. Ähnliche Studien zeigen, dass Frauen in solchen Situationen eher verängstigt sind. Angst lähmt und führt dazu, dass man nichts tut. Und auch im Nachhinein unternehmen Frauen oft nichts, weil sie Angst vor sozialen Konsequenzen haben – etwa, als Querulantin abgestempelt zu werden. Als Feministin will man vielleicht auch nicht gelten, weil es ein oft negativ besetztes Etikett ist.
Wie können sich Frauen zur Wehr setzen und wie überwinden sie die Angst vor Benachteiligung?
Es ist schon mal gut, wenn man sich klarmacht, dass der Umgang mit solchen Situationen nicht so einfach ist, wie man denkt. Ich habe bei einer Tagung eine Trainerin für Selbstbehauptung erlebt. Sie empfiehlt Frauen, Sozialpsychologin Charlotte Diehl (Foto: pr) hat an der Uni Bielefeld zu sexueller Belästigung promoviert. Derzeit arbeitet sie an einem Handbuch für Personalverantwortliche. (dpa)
bei der Körpersprache anzusetzen. Ein selbstbewusstes körperliches Auftreten bringt dann auch die mentale Haltung mit sich, ist die Theorie. Und es ist gut, dem Gegenüber in der konkreten Situation zu sagen, dass man das nicht will. In einem Experiment an unserer Uni haben wir gesehen, dass diese Rückmeldung dazu führt, dass der Belästigende aufhört. Ob das immer zum Erfolg führt, hängt vom Gegenüber ab. Mancher fühlt sich vielleicht sogar bestätigt. Aber wenn man dem Täter klare Grenzen aufzeigt, ist das gut. Verbündete suchen ist auch wichtig. Am Arbeitsplatz hat der Arbeitgeber eine aktive Schutzpflicht. Wenn er informiert wird, muss er sich kümmern. Wichtig ist, Beweise zu sammeln, belästigende Kurznachrichten etwa oder unangenehme Begegnungen zu protokollieren.
Wie können Männer zur Lösung des Problems beitragen?
Es gibt auch gut gemeinten Sexismus, bei dem Männer aus einem vermeintlichen Schutzbedürfnis der Frauen heraus Frauen falsch behandeln. Manch nett gemeintes Kompliment zementiert eben althergebrachte Rollenverteilungen, wenn man etwa sagt, dass Frauen besser mit Kindern umgehen können. Paternalistische Ratschläge mögen gut gemeint sein, etwa, wenn es um die Anforderungen einer Führungsposition geht und man gefragt wird, ob man sich das als Frau überhaupt zutraut. Sie können aber dazu führen, dass Frauen sich dann tatsächlich nicht auf Führungspositionen bewerben, obwohl sie sehr wohl geeignet wären. Solche Überzeugungen werden sehr früh erlernt und je älter man ist, desto schwerer ist es, sie abzulegen. Man müsste ganz früh in der Bildung ansetzen und zum Beispiel klarmachen, dass biologische Geschlechtsunterschiede für bestimmte Dinge im sozialen und beruflichen Leben gar nicht so ausschlaggebend sind.