Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
„Ich bin nicht euer guter Heinrich!“
Vor 100 Jahren wurde der Literaturnobelpreisträger Böll geboren
KÖLN - Vor 100 Jahren wurde Heinrich Böll geboren. Der Literaturnobelpreisträger aus Köln ist etwas in Vergessenheit geraten. Doch es lohnt sich, Romane wie „Gruppenbild mit Dame“oder „Ansichten eines Clowns“wieder zu lesen.
Mitte der 80er-Jahre ging es im Verband deutscher Schriftsteller (VS) hoch her. Die von Bernt Engelmann und Hans-Peter Bleuel mit ihren DKP-Kadern dominierte westdeutsche Autorenvereinigung stritt sich um das Verhältnis zu den schreibenden Genossen in der DDR und Polen. Auf dem VS-Kongress 1984 in Saarbrücken warb Heinrich Böll für eine Unterstützung der polnischen Opposition. Doch er musste erkennen, dass die meisten im VS weder ihre Kollegen in Polen noch die dissidenten Schriftsteller aus der DDR unterstützen wollten. Und so verwahrte sich Böll bei diesem Auftritt gegen jede harmonisierende Anbiederung mit dem denkwürdigen: „Ich bin nicht euer guter Heinrich!“Böll hat in dieser angespannten Situation deutlich gemacht, dass ihm das Gebot des Menschenrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit näher stand als der ideologische Korpsgeist linkstümelnder Meinungssoldaten.
Immer ein Suchender
Diese Haltung konnte man schon in seinen frühesten Texten ausmachen. Denn bereits der junge Böll war ein Suchender. Er fühlte sich nicht nur vom amtskirchlichen Apparat abgestoßen. Ihm ging es um eine klare Front gegen moralisches Heuchlertum, um individuelle Verantwortung. Texte wie „Die Inkonsequenzen des Christoff Sanktjörg“von 1936 oder „Unsere Zivilisation stinkt“(1937) schlagen einen aggressiv moralischen Ton an. Das allgemeine Banausentum, die Oberflächlichkeit, der Unernst, der ihm auf Schritt und Tritt begegnete, aber auch das Elend der kleinen Leute, trieben ihn um.
Das war noch nicht der desillusionierte Fußsoldat, der hier schrieb, nachdem aus einer Wehrübung 1939 sechs quälende Kriegsjahre wurden (siehe „Kriegstagebücher“). Und doch beschäftigte ihn in diesen literarischen Gehversuchen auch schon das Maria Magdalena-Motiv, veredelte er die Dirne aus Not zur Heilsfigur, verteidigte sie gegen Habgier und Ausbeutung in der Gesellschaft.
In den 50er-Jahren ist Böll ein Schriftsteller, der vom existenzialistischen Lebensgefühl des Ekels durchdrungen ist. Aber es ist noch nicht die unwiderstehliche Präsenz, die seinen Erzählton später kennzeichnete. „Ansichten eines Clowns“von 1963, die Geschichte von Hans Schnier, der sich mit allen Autoritäten und Scheinautoritäten anlegt, zeigt den Autor auf dem Höhepunkt einer nahezu anarchischen Fundamentalkritik. Die richtete sich nicht nur gegen kirchliche und politische Missstände, sondern gegen alles und jeden. Nie wieder war Bölls Erzählen so hinreißend treffsicher und witzig, verbunden durch emotionale Anteilnahme und distanzierende Ironie.
„Katharina Blum“, „Fürsorgliche Belagerung“, „Ende einer Dienstfahrt“– Böll erzählt, urteilt nicht. Er zeigt die seelischen Wunden und verlorenen Illusionen. Wenn er Partei ergreift, dann für die Schwachen, Wehrlosen. 1985, einen Monat nach Bölls Tod, kam sein letzter Roman „Frauen vor Flußlandschaft“heraus. Auch hier wieder der Zorn des Autors über die Doppelmoral in der Gesellschaft der alten Bundesrepublik mit ihrem arroganten Politikpersonal und den alten Nazis mit den neuen Karrieren. Solch kritische Haltung hat ihm oft Spott eingebracht. Viele konnten mit seiner Sprache nichts anfangen. Entweder war sie ihnen zu romantisch, oder sie ärgerten sich über den Armeleutegeruch zwischen den Zeilen.
Als er 1972 für „Gruppenbild mit Dame“den Nobelpreis erhielt, sagte er in seiner Dankesrede: „Ich bin weder ein Eigentlicher noch eigentlich keiner, ich bin ein Deutscher, mein einzig gültiger Ausweis, den mir niemand auszustellen oder zu verlängern braucht, ist die Sprache, in der ich schreibe.“
Bölls Stimme fehlt heute. Sie fehlt in der öffentlichen Diskussion einer Mediengesellschaft, die sich nur noch ihrer eigenen Larmoyanz vergewissern kann. Die Aggressivität der Medien bekam er auf dem Höhepunkt des RAF-Terrors vor 40 Jahren zu spüren, als seine Wohnung in Köln und sein Haus in der Eifel von der Polizei observiert wurden und die SpringerPresse ihn der sympathisierenden Nähe zum Terrorismus bezichtigte. Böll musste um die Sicherheit seiner Familie bangen,, wehrte sich gegen Verleumdung,, prozessierte, kämpfte um seine Ehre.
Gelassene Verneinung
Sein Wort von der „medienbedingten Schizophrenie“weist ins Zentrum heutiger Wahrnehmung. Er verfügte über die seltene Begabung zur gelassenen Verneinung, gespeist aus seiner moralischen Festigkeit. Manche haben versucht, diese Fähigkeit seiner Persönlichkeit zu trennen von seinem Schreiben. Doch Leben und Werk Bölls bilden eine Einheit. Sein Grundthema war eine existenzielle Glaubens- und Sinnkrise. Er fühlte sich abgestoßen nicht nur vom amtskirchlichen Apparat. Ihm ging es um eine klare Front gegen Heuchlertum, zugleich aber auch um die Verantwortung des Einzelnen. Er berief sich auf eine „Ästhetik des Humanen“, eine Mischung aus Bergpredigt, Aufklärung und Galgenhumor. Daraus entwickelte sich der sanfte, manchmal auch leicht sentimentale Klageton in seinen Büchern. „Die Humanität eines Landes“, so schrieb er, „lässt sich daran erkennen, was in seinem Abfall landet, was an Alltäglichem, noch Brauchbaren, was an Poesie weggeworfen, der Vernichtung für wert erachtet wird.“Böll war der erste, ganz unaustauschbare Repräsentant der alten Bundesrepublik, der katholische Schreinersohn aus Köln, der zwar viel in der Welt herumgekommen ist, aber niemals aus Köln herauskam.