Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Routine im steten Wandel
Bundestrainer Joachim Löw betreut die DFB-Elf heute gegen Brasilien zum 160. Mal
BERLIN - Einen kurzem Moment gab es dann doch, beinahe ganz am Schluss der Pressekonferenz, der Joachim Löw aus der Ruhe brachte. Der Bundestrainer hatte die Frage gehört, zögerte, kratze sich unter der Nase. Dann begann er: „Ja, alsooo“. Zog jeden Buchstaben in den Länge, überlegte noch während er sprach. „Sami, wenn er spielt.“Wieder Pause: „Wenn nicht, wird Jérôme Boateng Kapitän sein. Der spielt von Anfang an.“Souverän hatte der Bundestrainer bis dahin alle Themen nacheinander schnell abgebügelt. Das 7:1 der deutschen Nationalmannschaft im WM-Halbfinale 2014 und das Trauma der Brasilianer? Löw: „In der Anfangsformation werden vielleicht drei, vier Spieler von 2014 im Team stehen. Die ganzen Topspieler können mit dem Druck heutzutage viel besser umgehen.“Boatengs Generalkritik am Auftritt des Weltmeisters am Freitag beim 1.1 gegen Spanien? „Ich unterstütze, was Jérôme gesagt hat. Deutschland kann und wird sich auch noch steigern.“
Kein Thema, was der Bundestrainer nicht gekonnt und mit der Routine von 159 Einsätzen als Bundestrainer umschiffte – bis, ja bis zur Kapitänsfrage, die ja eigentlich gar keine war, stellte sie sich ja nur wegen der Verletzung von Manuel Neuer und der zum gegenseitigen Wohlgefallen vereinbarten und nach dem 1:1 erfolgten Abreise Thomas Müllers. Dass solch eine vermeintliche Banalität überhaupt herhalten muss bei der Frage, was den Bundestrainer ein wenig aus der Ruhe bringen kann, verdeutlicht umso mehr, wie routiniert Löw mittlerweile in dem ist, was er macht. Wenn die deutsche Nationalmannschaft am heutigen Dienstag (20.45 Uhr/ZDF) in Berlin gegen Brasilien ihr 940. Länderspiel bestreitet, wird Joachim Löw zum 160. Mal als Bundestrainer auf der Bank Platz nehmen. Hinzu kommen noch die Spiele, die er von 2004 bis 2006 als Assistent von Jürgen Klinsmann bestritt. Damit hat Löw nur Rekordhalter Sepp Herberger (168 Länderspiele) noch vor sich. Seit seinem Amtsantritt im August 2006 gewann das DFB-Team 106 Spiele, kam auf 30 Unentschieden und verlor 23-mal. Rekordzahlen.
Und während bei Brasilien seit 2006 die Herren Carlos Dunga, Mano Menezes, Luiz Felipe Scolari, wieder Dunga und aktuell Tite das Sagen hatten beziehungsweise haben, hat sich bei Joachim Löw nicht einmal die Frisur geändert in den letzten zwölf Jahren. Der Schwarzwälder ist neudeutsch: alternativlos.
Doch nur weil Löw immer Löw ist und immer aussieht wie Löw, heißt
„Er ist für alles offen. Eine Vertrauensperson für uns, ob für ältere oder jüngere Spieler“
Jérôme Boateng
das nicht, dass Löw nicht wandlungsfähig wäre. Im Gegenteil: Der 58-Jährige erfindet sich und seine Mannschaft immer wieder neu, entwickelt unermütlich, passt Personal und Spielphilosophie einander an – und sorgt nebenbei noch fürs persönliche Wohlbefinden.
„Er ist für alles offen. Er ist eine Vertrauensperson für uns, ob für ältere oder jüngere Spieler“, erläuterte Boateng am Montag. „Man kann mit ihm über alles reden und wir wollen ihm auf dem Platz dann auch sein Vertrauen zurückzahlen.“Weltmeister-Kollege Matthias Ginter sieht das ähnlich: „Die Konstanz auf der Position ist sehr wichtig, denn Umstellungen hindern die Entwicklung. Außerhalb des Platzes ist er sehr menschlich. Er gibt einem auch mental viel Kraft und Vertrauen. Man kann alles mit ihm besprechen, man kann immer zu ihm kommen.“
Ganz als der nette Onkel der Kompanie wollte sich der Vielgelobte dann doch nicht verstanden wissen. „Das Verhältnis zu den Spielern ist natürlich stark aufs Sportliche ausgerichtet. Aber ich bin mit Khedira, Hummels, Özil oder Kroos schon einen langen Weg zusammen gegangen. Da hat man auch die Gelegenheit, über Privates zu reden. Oder auch mit neuen Spielern mal über Hobbys zu reden“, sagte Löw.
Neue Spieler hat Löw ja immer gerne eingebaut, 95 Kickern verhalf er zu ersten Länderspielen, insgesamt 120 Spieler setzte er ein. Gleichzeitig gab es auch immer diese legendäre Jogi-Loyalität, vor allem gegenüber verdienten Spielern. Die scheint aber zuletzt ein wenig ins Wanken geraten zu sein, frag nach bei Mario Götze.
Der Siegtorschütze von Rio de Janeiro wird nun womöglich zu Hause in Dortmund zusehen müssen, wie sich womöglich ein anderer Wirbelwind in den Fokus dribbeln wird: Leroy Sané. Löw weiß genau, was er an dem Profi von Manchester City hat: „Er ist hervorragend im Eins-gegenEins-Spiel mit einer wahnsinnigen Schnelligkeit“.
Dieses Element fehlt Joachim Löws Mannschaft derzeit ansonsten ja ein wenig. Also baut Löw auf den dribbelstarken Wuschelkopf, auch wenn der „manchmal einen Tritt in den Allerwertesten“, brauche, wie sein Vereins- und Nationalmannschaftskollege Ilkay Gündogan am Sonntag verdeutlichte. Aber auch damit hat Löw ja, flache Hierarchien hin oder her, ja auch nie ein Problem gehabt. Stichwort: „Högschde Disziplin“, auch wenn er diesen geflügelten Ausdruck so schon länger nicht mehr gesagt hat. Stattdessen heißt es jetzt, etwas ausführlicher: „Immer, wenn wir das gemacht haben, was wir besprochen haben, hatten wir super Aktionen. Das Thema ist immer das zu tun, was wir besprochen haben“.
Deutschland: Leno (26 Jahre/6 Länderspiele) - Kimmich (23/26), Boateng (29/69), Hummels (29/63), Plattenhardt (26/5) – Rudy (28/24), Kroos (28/81) – Goretzka (23/13), Gündogan (27/23), Sané (22/10) – Werner (22/11). – Brasilien: Alisson (25/23) – Alves (34/107), Silva (33/68), Miranda (33/44), Marcelo (29/52) – Casemiro (26/21) – Willian (29/54), Paulinho (29/47), Fernandinho (32/41), Coutinho (25/33) – Gabriel Jesus (20/14).