Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Zurück in die Ruinen
In der zerstörten Stadt Mossul regt sich wieder Leben – Der Staat Irak kämpft um einen Neuanfang
– Von weitem kaum erkennbar schleicht eine getigerte Katze durch die Trümmer des Al-Shifaa-Krankenhauses in Mossul. Mitten durch Steine, verbogene Eisenstangen, Schutt – und fernab der Wege, die von den Minenräumern der Vereinten Nationen (UN) freigegeben wurden. Wenn sie jetzt auf eine Sprengfalle tritt… Der Gedanke ist naheliegend, wurde doch den Besuchern aus Deutschland von den Sicherheitsbeamten eingeschärft, unter keinen Umständen einen Schritt rechts oder links vom Pfad abzuweichen. Die Aprilsonne leuchtet die riesige Ruine, die einst Mossuls Krankenhaus im Westteil der Stadt war, mit hartem Licht aus. Unter der kugelsicheren Schutzweste feuchtet das T-Shirt durch. Mark Warburton, der im UN-Auftrag Sprengsätze beseitigt, erklärt Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) den teuflischen Einfallsreichtum der IS-Terroristen: Sie haben Tausende Sprengfallen hinterlassen – die als halbvolle Wasserflaschen getarnt sind, auf Bewegung reagieren wie die Lämpchen im Vorgarten oder mit kaum sichtbaren Drähten gezündet werden. Sozusagen in Handarbeit hergestellt.
Menschenverachtende Waffen
„Die hatten alles da, um diese Sprengfallen zu bauen“, erklärt Minenräumer Warburton. Minister Müller ist sichtbar entsetzt von der Perfidie, mit der die Islamisten vorgegangen sind. Mossul war ihre letzte große Hochburg im Irak, bevor die Millionenstadt im Juli 2017 für befreit erklärt wurde. Dort hatten sie sich bis zuletzt im Al-Shifaa-Hospital verschanzt, das vor dem Krieg eine der modernsten Kliniken im Land war. 1200 Betten hatte das Haus. Davon ist nichts übrig geblieben. Wie überhaupt vom Westteil von Mossul wenig übrig geblieben ist. Rechts und links der Straßen türmen sich Schuttberge. Auf oder unter ihnen liegen Auto- und Lastwagenwracks, in einigen wenigen Häusern hat der frühere Ladenraum im Erdgeschoss den Kämpfen standgehalten und wirkt nun wie eine dunkle Höhle in den Trümmern. Ein älterer Mann mit einem kleinen Turban auf dem Kopf räumt von einer mit Schutt bedeckten Treppe zwischen den Häuserruinen einen Stein nach dem anderen weg – was für eine Sisyphusarbeit. Wo er wohl wohnen mag in all dieser Zerstörung? Aber immerhin, es regt sich Leben in den Trümmern von Mossul. 785 000 Einwohner sind bereits in die Stadt zurückgekehrt.
Endlich wieder Schule
Das Zeremoniell ist laut und fröhlich: Die Kinder der wiedereröffneten Al-Huda-Schule in West-Mossul schmettern den Besuchern ihren Begrüßungsspruch entgegen und klatschen dazu rhythmisch in die Hände. Nach dem offiziellen Teil werden die Gäste von den munteren Mädchen in rotkarierten Schuluniformen um Selfies gebeten. Was für ein Strahlen in ihren Augen. Es gibt tatsächlich Hoffnung in und für diese Stadt. Rund 180 Schulen werden mit deutscher Hilfe in Mossul aufgebaut, davon sollen 120 000 Kinder profitieren. Kinder und Jugendliche, die jahrelang überhaupt nicht unterrichtet werden konnten.
Mossul. Die zweitgrößte Stadt des Irak. Einst eine Metropole, in der sunnitische Araber und Kurden ebenso wie Assyrer und auch Jesiden nebeneinander in Frieden gelebt haben. Kaum ein anderer Ort im Irak ist dermaßen von den Kriegen, Konflikten und Spannungen der jüngsten Vergangenheit erschüttert worden wie die Stadt und ihre Umgebung im Norden des Landes. Dort scheinen sich die Probleme zu bündeln, vor denen auch der Irak als Gesamtstaat steht: die schwierige Sicherheitslage in vielen Landesteilen, die zerstörte Infrastruktur, Millionen Flüchtlinge, die ihre Heimat verloren haben, der bislang nicht geahndete Genozid an den Jesiden, Kurden, die sich nicht als Iraker fühlen und deshalb unabhängig sein wollen, der Konflikt zwischen verschiedenen Religionsgruppen. Und natürlich die Korruption und die allgegenwärtige Militarisierung der Gesellschaft. Manche Männer fühlten sich nackt, wenn sie ohne Waffe aus dem Haus gehen, erzählt eine Frau, die für die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) tätig ist und seit zwei Jahren in der kurdischen Stadt Erbil wohnt.
„Wir können das Land jetzt nicht sich selbst überlassen“, sagt Gerd Müller, der als erster westlicher Minister nach der Befreiung Mossuls vom IS die Stadt besuchen konnte. Sich dort ein Bild machen zu können, wo der frühere IS-Anführer Abu Bakr al-Bagdadi in der Al-NuriMoschee sein Kalifat ausrief, ist der traurige Höhepunkt einer Reise, die von Bagdad ins Kurdengebiet rund um Erbil und Dohuk und in das nordirakische Gouvernement Ninive führte. Trotz aller Schwierigkeiten, mit denen Müller während seines Besuchs konfrontiert wird, ist er von seinem Plan überzeugt: Das die Rückkehr nach Deutschland geflüchteter Iraker in ihre Heimat möglich ist, wenn sie dort in Sicherheit wohnen und arbeiten können, wenn ihre Kinder zur Schule und Kranke in ein Hospital gehen können. Und deshalb ist eine stabile Lage im Irak seiner Meinung nach kein Randthema, sondern im Interesse deutscher Regierungspolitik.
Doch vor Müller liegen die Mühen der Ebene: In Berlin konnte er offensichtlich noch nicht alle Kabinettskollegen davon überzeugen, dass es trotz der Kosten für das von ihm aufgelegte Rückkehrer-Programm auf Dauer für Deutschland günstiger wird, wenn mehr Flüchtlinge freiwillig in ihr Heimatland ausreisen. Und in Bagdad scheint es bei vielen Politikern noch nicht angekommen zu sein, dass ihr Beruf nicht in erster Linie der Befriedigung eigener monetärer Interessen dient. Doch der CSUPolitiker aus dem Allgäu lässt nicht locker – er wirbt bei deutschen Firmen für Investitionen im
Irak, schmiedet Kooperationen mit staatlichen und privaten Hilfsorganisationen, sichert der Regierung im Irak seine Unterstützung zu, mahnt aber auch mehr Engagement an, um der Korruption und der überbordenden Bürokratie Herr zu werden. Das erfreut nicht alle Gesprächspartner gleichermaßen.
Im Flüchtlingscamp Kabarto ist der Auflauf groß, als der Minister, seine Delegation und Politiker des Gouvernements in einem langen Tross mit gepanzerten Wagen vorfahren. In dem Lager, dem ältesten von 26 in der kurdischen Provinz Dohuk, gehen die Bauarbeiten voran – der Spielplatz, Sportanlagen und ein Amphitheater sind bereits fertiggestellt. Müller ist gekommen, um die neue Kläranlage zu besichtigen, die von Juli 2018 an das Abwasser der rund 27 000 Bewohner reinigen soll. Bislang lief es ungeklärt in den Mossul-See. In der Anfangszeit brach in dem Camp sogar immer wieder Cholera aus, weil das Abwasser offen über das Gelände lief. Ein Mann in Bauarbeiterkleidung zieht eine Mauer hoch, die zur neuen Anlage gehört. „Wie viel verdienen Sie am Tag?“, will Müller von ihm wissen. Mit der Antwort „27 Euro als gelernter Arbeiter“scheint er zufrieden zu sein. Denn das ist nicht wenig für irakische Verhältnisse – und sichert, so die Rechnung des deutschen Politikers, die Lebensgrundlage von durchschnittlich zehn Menschen. Bezahlt werden die Arbeiter in dem Camp, in dem ausschließlich Jesiden wohnen, aus einem Topf im Entwicklungsministerium, mit dem das sogenannte Cash-for-WorkProgramm in mehreren Ländern im Nahen Osten finanziert wird. Die Jobs sind allerdings so begehrt, dass nicht alle, die gerne arbeiten würden, zum Zug kommen.
„Mein Mann hatte vor einem Jahr für 40 Tage Arbeit“, sagt die 25-jährige Basma, Mutter dreier Kinder, etwas enttäuscht. Seither lebt ihre 13köpfige Großfamilie von den 15 Dollar, die pro Person im Monat bezahlt werden. Gerade für die jesidischen Männer sei es schwierig, sich mit dem Gedanken abzufinden, ihre Frauen und Kinder nicht ernähren zu können, sagt eine GIZ-Mitarbeiterin. Denn im traditionellen Rollenverständnis der Jesiden ist ihnen ganz klar die Bestimmung als Ernährer zugeschrieben. Wenn sie diese nicht erfüllen könnten, litten darunter auch ihre Frauen, sagt die GIZ-Vertreterin. Aber um noch mehr Menschen in Arbeit zu bringen, müsste in Berlin das Budget für dieses Programm erhöht werden. Im Jahr 2017 waren dafür 231 Millionen Euro vorgesehen, mit denen insgesamt mehr als 85 000 Jobs in der Türkei, Jordanien, Syrien und im Irak finanziert wurden. In den Folgejahren sollen es rund 195 Millionen Euro im Jahr werden. „Wir müssen die Qualifikationen der Leute erkennen und ihnen Arbeitsmöglichkeiten geben“, sagt Müller. Denn dann sieht er auch Chancen, sie in ihren Heimatländern zu halten.
Den Menschen Hoffnung zu machen, dass sie in Zukunft ein besseres Leben haben werden. Ihnen gleichzeitig die Hilfe zu geben, die sie brauchen, um mit den Erlebnissen der Vergangenheit klar kommen – das ist ein Teil von Müllers Mission im Irak. Aber natürlich sendet er dabei auch ein Signal an die Menschen in Deutschland. Sie sollen erfahren, dass es Chancen gibt, Flüchtlinge zur freiwilligen Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu bewegen. Von den 240 000 Irakern, die in Deutschland leben, sind die Hälfte auf Hartz-IVLeistungen angewiesen. Das Geld, das hierzulande für Sozialleistungen bezahlt wird, würde der Entwicklungsminister lieber in die Bekämpfung von Fluchtursachen investieren, nicht nur im Irak, sondern auch in anderen Krisenländern im Nahen Osten und in Afrika. Das ist sein Mantra, das ihn schon während seiner letzten Amtszeit als Entwicklungsminister begleitet hat. Und deshalb kränkt es ihn fast persönlich, wenn die von ihm beantragte Erhöhung seines Budgets im Bundeshaushalt von den anderen Regierungsmitgliedern nicht als notwendig erachtet wird.
Die Lage bleibt fragil
Die Ruinen von Mossul, die staubige Jesiden-Zeltstadt Kabarto, das Prothesenzentrum in Dohuk, das neu eröffnete Frauenbegegnungszentrum in Dohuk – das sind die Orte, an denen sich im Großen wie im Kleinen zeigt, was passieren kann, wenn ein seit Jahrzehnten gebeuteltes Land wie der Irak plötzlich sich selbst überlassen wird. Wie Millionen Menschen ihr Leben lang darunter zu leiden haben, wenn fanatische Gruppierungen nach Kontrolle und Macht greifen, die ein zerrissener Staat nicht mehr ausüben kann. Wie ein jahrhundertelanges Mit- oder Nebeneinander von Volks- und Religionsgruppen in einen Völkermord gipfeln kann, wenn niemand da ist, der die Minderheit schützt. Nach dem Ende der Kämpfe gegen den IS im vergangenen Jahr ist jetzt zum ersten Mal seit langer Zeit weitgehend Ruhe im Irak. Selbst der Konflikt zwischen kurdischer Regionalregierung und irakischer Zentralregierung, der nach dem Unabhängigkeitsreferendum im September 2017 hochgekocht ist, scheint sich zu entspannen. Doch die Lage im Land ist fragil, wie das riesige Aufgebot an Sicherheitskräften beweist. Und der Wiederaufbau ohne Hilfe von außen nicht zu schaffen. Mit 1,3 Milliarden Euro hat Deutschland den Irak seit 2014 unterstützt. Gut angelegtes Geld, findet der Entwicklungsminister. Denn wenn die Menschen ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen könnten, drohe eine neue Radikalisierung.
„Wir können das Land jetzt nicht sich selbst überlassen.“Entwicklungsminister Gerd Müller bei seinem Besuch im Irak