Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
„Arm bleibt arm und reich wird reicher“
Oliver Merkelbach, der Direktor des Caritasverbandes der Diözese Rottenburg-Stuttgart, spricht von einem Skandal
Als Direktor des Caritasverbandes der Diözese Rottenburg-Stuttgart blickt Oliver Merkelbach mit Sorge auf die wachsenden Zahlen von Armut betroffener Kinder. Im Interview erklärt er Erich Nyffenegger, wie die Gesellschaft das Ruder herumreißen kann.
Welche Dringlichkeit besitzt das Thema Kinderarmut im reichen Baden-Württemberg überhaupt?
In Baden-Württemberg ist mittlerweile jedes fünfte Kind von Armut bedroht. Das sind 358 000 Kinder und Jugendliche. Das ist ein gesellschaftspolitischer Skandal, weil die Zahl auch noch steigt. In den letzten zehn Jahren um drei Prozent von gut 16 auf gut 19 Prozent. Bei der Kinderarmut besonders prägnant ist, dass sie sehr nachhaltig ist. Kinder kommen ja unverschuldet in diese Situation. Sie werden in die Armut hineingeboren. Arme Kinder haben arme Eltern. Die Quote ist am höchsten in Familien von Erwerbslosen. Dann folgen gleich Kinder von Alleinerziehenden. Eine weitere Gruppe sind Familien mit mehreren Kindern, dann ist die Wahrscheinlichkeit, arm zu werden, auch in Familien mit mittleren Einkommen sehr hoch. Und dann gibt es noch die Gruppe der Migranten, die ein besonders hohes Armutsrisiko haben. Aber die Kinder können ja nichts dafür.
Wenn Sie auf die vergangenen Jahrzehnte zurückblicken – sehen Sie nichts Positives?
Eher nicht. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Landesregierung hat ja gezeigt, dass die Schere immer weiter auseinandergeht. Arm bleibt arm und reich wird reicher.
Haben wir überhaupt eine Chance, Kinderarmut zu überwinden?
Armutsbekämpfung ist immer noch zu sehr symptombezogen. Nehmen wir beispielsweise Tafelläden oder Schulranzenaktionen: Punktuell entlastet das die Betroffenen, ändert aber nichts an den Ursachen. Wir müssen das viel mehr von der strukturellen Seite angehen. Der entscheidende Ansatz geht über die Bildung. Wenn Kinder eine gute Bildung bekommen, einen Schulabschluss, eine gute Ausbildung, dann ist die Gefahr, dass sie die Einkommensschwachen von morgen und armen Alten von übermorgen sind, viel geringer. Nötig sind flächendeckender Ausbau von Kinderfamilienzentren, die nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern begleiten. Außerdem brauchen wir einen qualifizierten Ausbau von Ganztagsschulen, dass jene Kinder, die zu Hause nicht die Unterstützung bekommen, die sie bräuchten, mitgenommen werden. Zudem sollten Kinder kontinuierlich über ihre Bildungsbiografie hinweg begleitet werden. Knackpunkt sind die Übergänge von Schule zu Beruf. Wir verlieren immer noch zu viele Jugendliche auf diesem Weg, wenn sie keine Unterstützung bekommen.
Was tut die Caritas konkret, um Kinderarmut in Deutschland zu lindern?
Wir wollen uns selbst als Gestalter in die Zivilgesellschaft einbringen. Ein Beispiel ist „Mach Dich stark“– Kinder brauchen Chancen. Wir sehen uns als Initiator und Moderator, um dieses Problem mit vielen anderen anzupacken. Viele Akteure machen an vielen Stellen viel Gutes. Wir müssen uns verbinden. Aus Politik, aus der Verwaltung, aus Sozialverbänden, Schulen und Wirtschaft, um diese große Herausforderung anzugehen. Unser Bildungssystem in Baden-Württemberg ist immer noch zu sehr selektiv. In keinem andern Bundesland entscheidet der sozioökonomische Hintergrund der Eltern so sehr über den Bildungserfolg der Kinder. Das müssen wir ändern.