Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Nichts ist so umstritten wie der kleine Pikser
Wissenschaftlich ist die Sache mit dem Impfen klar, ideologisch nicht – Die „Schwäbische Zeitung“plant Expertenrunde mit Lesern
RAVENSBURG - Eigentlich ist der Allgemeinmediziner Dr. Hans Bürger kein Mensch, der Schauergeschichten über das Impfen oder besser gesagt das Nichtimpfen erzählt. Schon gar nicht, wenn er auf dem sonnigen Balkon seines Hauses in Vogt (Landkreis Ravensburg) bei Kaffee und Kuchen sitzt, während die Vögel das Lied vom Spätsommer zwitschern. Insbesondere, wenn diese Geschichten auf Zahlen beruhen, die sich in Wahrscheinlichkeiten ausdrücken, also in Prozent. „Diese Prozente machen alles zu abstrakt“, findet der Arzt und Vorsitzende der Ravensburger Kreisärzteschaft. Angenommen, ein Kind erleide eine schwere Krankheit infolge einer fehlenden Impfung, die die Eltern für falsch hielten. Und angenommen, nur ein Promille oder noch weniger erleide irreparable Schäden bis hin zum Tod: „Wenn das Ihre Tochter ist, interessiert es Sie da noch, welche Prozentzahl das Risiko beschreibt, wenn das Leid durch eine einfache und sichere Impfung zu vermeiden gewesen wäre?“Für den Schulmediziner ist die Antwort darauf eindeutig. Jeder vermeidbare Fall sei einer zu viel.
Damit gehört er zwar zu einer großen Mehrheit von Menschen in Deutschland, die Impfungen als wirksames Mittel gegen die Entstehung gefährlicher Krankheiten anerkennen.
Andererseits betont Bürger, dass die Entscheidung für oder gegen den kleinen Piks bei jedem Menschen selbst liege – und im Fall der Kinder eben bei den Eltern. „Unsere Aufgabe ist es, zu beraten.
Klar, nachvollziehbar und transparent.“
Von einer Impfpflicht hält der Hausarzt nicht viel. Er bevorzugt den Weg der Überzeugung.
Und dafür habe Bürger eine Menge Munition aus unabhängiger Quelle. „Die Stiko (Ständige Impfkommission) ist ja kein Kaffeeclub“, sagt der Arzt. Sie ist am Robert-Koch-Institut (RKI) angesiedelt. Dieses wiederum ist der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) angegliedert, und wann immer die Experten der Stiko ihre Empfehlungen aktualisieren, geht diese Information über die Ärztekammern direkt zu den Kammermitgliedern – also den niedergelassenen Ärzten –, und schließlich zum Patienten in der Praxis. Wie gesagt, Schauergeschichten sind nicht Bürgers Ding, allerdings: „Ich habe in meiner näheren und weiteren Umgebung gesehen, welche Folgen es haben kann, etwa nicht gegen Masern geimpft zu sein. Nicht irgendwo weit weg, sondern hier.“Der Mediziner, der eine Praxis in Vogt betreibt, erinnert sich an den Fall eines jungen Mannes, der viele Monate gegen die Auswirkungen seiner Masernerkrankung hatte kämpfen müssen. Und er nennt den Fall eines älteren Patienten, der schließlich an einer Enzephalitis, also einer Hirnhautentzündung, verstarb. „Jeder Fall ist einer zu viel“, wiederholt
Bürger.
Für den Arzt ist das Thema Impfen nicht nur eine medizinisch-wissenschaftliche Frage, sondern auch eine soziale. Denn: „Menschen mit einem geschwächten Immunsystem profitieren vom sogenannten Herdenschutz.“Will heißen: Wenn die Impfrate sehr hoch ist, nützt es anfälligeren Personen, dass sich Erreger nicht oder weniger ausbreiten. Jeder nicht Geimpfte ist damit – unabhängig vom eigenen Gesundheitsstatus – potenzieller Überträger. „Was mich besonders wundert, ist die relativ niedrige Impfquote beim Fachpersonal im Gesundheitswesen, wenn es um die Grippe geht“, sagt Hans Bürger. Bei einer Online-Umfrage des RKI unter Klinikmitarbeitern zeigen die Ergebnisse, dass sich lediglich 32,5 Prozent des Pflegepersonals und 61,4 Prozent der Ärzte gegen die Influenza impfen lassen. Und das vor dem Hintergrund, dass in Krankenhäusern Patienten mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen besonders gefährdet sind, bei einer Infektion mit der echten Grippe gravierende Probleme zu bekommen, weil ein geschwächtes Immunsystem eine deutlich verminderte Abwehr bedeutet.
Woher die große Skepsis bestimmter Menschen gegen das Impfen herkommt, kann sich der Vorsitzende der Kreisärztekammer nicht so richtig erklären. In diesem medizinischen Fachgebiet gebe es viele Laien, die für sich in Anspruch nähmen, es besser zu wissen als die Forschung. Das Argument, es gehe bei Impfungen allein um die wirtschaftlichen Interessen der Pharmaindustrie, entkräftet er, indem er sagt: „Also, ob ich impfe oder nicht – das wirkt sich wirtschaftlich nicht nennenswert aus.“Und den Nutzen sinnvoller Impfungen könne man schon daran leicht erkennen, dass die Krankenkassen die Kosten dafür übernehmen. Warum dann der Furor und die Diskussionen mit Schaum vor dem Mund? „Wenn ich die Wahl habe zwischen einem Auto mit vier oder drei Reifen, dann nehme ich das mit vieren“, sagt Hans Bürger und schüttelt
den Kopf.
Bücher und
Filme – wie etwa der aktuelle Dokumentarstreifen von
David Sieveking mit dem
Titel „Eingeimpft“– sieht Bürkritisch. ger Denn er werde dem Anspruch einer objektiven und auf Fakten beruhenden Betrachtungsweise in keiner Weise gerecht, sondern spiegle lediglich die subjektiven Überlegungen einer einzelnen Familie. Die vielstimmige Meinung aus der Wissenschaft über den Film: Er schüre Angst und operiere mit Halbwahrheiten, was die Verunsicherung beim Thema Impfen weiter verstärke.
Während es Krankheitsbilder gibt, die inzwischen dank der Impfungen bei uns ausgestorben sind – die Pockenvorsorge ist dafür ein populäres und anerkanntes Beispiel – plädieren viele Ärzte wie Hans Bürger dafür, bei bestimmten Impfungen durchaus differenziert den möglichen Nutzen im Verhältnis zu Aufwand und Kosten zu betrachten. Und das tut im Übrigen auch die Stiko, wie die Schutzimpfung gegen Herpes Zoster, umgangssprachlich Gürtelrose genannt, zeigt. Anstatt als verlängerter Arm der Pharmaindustrie von vielen Kritikern verunglimpfte Impfkommission winkt die Stiko eben nicht alles durch, was Geld bringt. Zur Impfung gegen die Gürtelrose schreibt sie zum Beispiel: „Nach individueller Risiko-NutzenAbwägung kann eine Impfung im Einzelfall sinnvoll sein. Da die Impfung derzeit nicht in der aktuellen Schutzimpfungsrichtlinie aufgeführt ist und damit keine Pflichtleistung der Gesetzlichen Krankenkassen darstellt, ist die Kostenerstattung vor der Impfung zu klären.“Und genau darin sieht Bürger seine Aufgabe: „Mit individueller Beratung zu einer Entscheidung zu gelangen, die vor allem dem Patienten nützt.“
Nicht viel zu diskutieren gibt es hingen gegen aus Sicht des Medizidie ners über HPV-Impfung, die zunächst als Schutz gegen eine Form des Gebärmutterhalskrebses bekannt geworden ist. Inzwischen weiß man: Sie ist für Jungen ebenfalls sinnvoll, weil die HP-Viren einerseits von Männern übertragen werden können und auch bei ihnen selbst bestimmte Krebsformen im Genitalund Analbereich auslösen können. „Da hat es sehr lange gedauert – zehn Jahre – bis die Impfung jetzt auch für Jungen durch die Ständige Impfkommission empfohlen ist und die Kosten von den Krankenkassen übernommen werden“, sagt Hans Bürger, der seinen eigenen Sohn bereits gegen HP-Viren hat impfen lassen, als das noch keine Pflichtleistung der Kassen war.
Die Infoveranstaltung der „Schwäbischen Zeitung“am 25. Oktober kann eine individuelle Fachberatung für Patienten, die Fragen zu Impfungen haben, natürlich nicht ersetzen. Doch Dr. Hans Bürger als Vorsitzender der Kreisärzteschaft Ravensburg, Prof. Dr. Günther Wiedemann als Chefarzt der Inneren Medizin an der Oberschwabenklinik und Kinderarzt Dr. Frank Kirchner werden sich vor Publikum den wichtigen Fragen der Leser stellen. Diese Fragen können ab sofort vorab eingereicht werden.
„Was mich besonders wundert, ist die relativ niedrige Impfrate bei Fachpersonal.“Hausarzt Hans Bürger über eine Umfrage an Kliniken
„Ob ich impfe oder nicht – das wirkt sich wirtschaftlich nicht nennenswert aus.“Hans Bürger zum Argument, Impfen bereichere