Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Land mit zwei Präsidenten
Nach der Eskalation des Machtkampfes in Venezuela formieren sich die politischen Lager
MEXIKO-STADT - Als Caracas am Morgen nach dem Showdown erwachte, schien es so, als seien die venezolanische Hauptstadt und das Land in eine Art Duldungsstarre verfallen. Es lag eine gespannte Stille über dem Land. Venezuelas Konflikt um die Macht, der sich seit vielen Jahren hinzieht, hat eine unerwartete Wendung genommen. Und es hat den Anschein, als müssten sich die Akteure erst einmal neu sortieren.
Auch für die Bevölkerung ist das Szenario völlig neu. Zwei Präsidenten, die sich gegenseitig die Legitimation absprechen, zwei Parlamente, eines der Opposition und eines der Regierung. Die Lage in Venezuela erfährt in diesen Stunden eine surreale Zuspitzung im Ringen um die Macht, mit der kaum jemand gerechnet hat. „Von jetzt an stehen wir vor einem hochkarätigen Dilemma“, sagt der politische Beobachter Jesús Seguías. „Wir sehen praktisch eine offene, radikale Konfrontation zwischen Regierung und Opposition.“
Und sie ist hoch explosiv. Entscheidender Akteur ist das Militär. Verteidigungsminister Vladimir Padrino stellte sich am Donnerstag ausdrücklich hinter den Präsidenten. „Seit Langem schon wird ein hinterhältiger Plan für einen Staatsstreich geschmiedet“, sagte der General in einer Fernsehansprache. „Und jetzt hat er eine sehr hohe Gefahrenstufe erreicht.“Die Selbstproklamation zum Übergangspräsidenten von Juan Guaidó am Mittwoch bezeichnete Padrino als „peinlich, unsinnig, irre und sehr gefährlich“. Umgeben von der Militärspitze fuhr Padrino fort: „Das ist ein schwerer Anschlag auf den Rechtsstaat. Wir werden keine terroristischen Akte dulden.“
Wettrennen um Anerkennung
Die Frage ist, wer überhaupt der Souverän in diesem Moment in Venezuela ist. Nach der Selbsternennung zum Interimsstaatschef erkannten die USA und Kanada, fast alle großen Staaten Lateinamerikas, bis auf Mexiko, sowie die Organisation Amerikanischer Staaten Guaidó umgehend an. Und am Donnerstag lieferten sich die Staaten fast ein Wettrennen um die Anerkennung. Russland und die Türkei stellen sich hinter Nicolás Maduro – auch wegen ihrer wirtschaftlichen Interessen. Georgien und selbst das sozialistische Albanien positionierten sich – in diesem Fall für Guaidó. Die Europäische Union äußerte sich vorsichtiger. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini rief das Land zu Neuwahlen auf. Bundesaußenminister Heiko Maas stellte sich klar auf die Seite des selbst ernannten Gegenpräsidenten Guaidó. „Wir sind nicht neutral in dieser Frage, sondern wir unterstützen das, was Guaidó dort tut“, sagte Maas.
Deutlich verärgert reagierte Russland, das neben China der engste Verbündete Venezuelas ist. Moskau verurteilte „fremde Mächte“dafür, dass sie den venezolanischen Oppositionsführer unterstützen. Guaidó habe die Macht an sich gerissen und wolle die Präsidentschaft „usurpieren“, hieß es. Es bestehe die Gefahr eines Blutbads.
Russland hat besonders viel zu verlieren, sollte der junge Politiker, der aus der rechten Partei „Voluntad Popular“stammt, aus dem Machtkampf als Sieger hervorgehen. In Moskau erhielt Maduro Ende des Jahres eine Zusage über frische Investitionen in Höhe von sechs Milliarden Dollar. Geld, das in den Erdölsektor fließen und die stetig fallende Förderung des Rohstoffs stoppen soll. Venezuela ist zwar das Land mit den weltweit höchsten nachgewiesenen Ölreserven, aber der Staatskonzern Petróleos de Venezuela (PDVSA) ist nicht in der Lage, diese zu fördern oder neue Felder zu erschließen. In den vergangenen Jahren fiel die Produktion von 3,5 Millionen Barrel pro Tag auf zuletzt etwa 1,5 Millionen Barrel. Dabei ist der Ölexport faktisch die einzige Devisenquelle des Landes.
Der vor allem im Maracaibo-See schlummernde Schatz von 300 Milliarden Barrel macht das Land zu einem begehrten Partner. Und Russland und sein Staatskonzern Rosneft spielen hier derzeit die Hauptrolle. Dabei datiert die russisch-venezolanische Kooperation schon von 2006, als der damalige Präsident Hugo Chávez mit Putin in Moskau den ersten Kooperationsvertrag zwischen Rosneft und PDVSA unterzeichnete. Seither haben Russland und Rosneft rund 23 Milliarden Dollar an Investitionen und Kreditlinien überwiesen. Im Gegenzug bietet Maduro den Russen lukrative Teilhabe an Öl- und Gasförderprojekten. Das alles ist jetzt in Gefahr.
Der Druck steigt
Maduro hat immer ausgeschlossen, dass er friedlich von der Macht lässt. Bisher hat der Präsident in seinen sechs Jahren im Miraflores-Palast in Caracas alle Attacken pariert, zuletzt im Sommer 2017 wochenlange Proteste mit mehr als hundert Toten. Drei entscheidende Dinge haben sich allerdings seither geändert. Zum einen hat die Opposition mit Guaidó ein frisches Gesicht und einen Politiker, der die Maduro-Gegner eint und der Bevölkerung Hoffnung gibt. Zum anderen ist der internationale Druck mit Sanktionen und Isolation noch mal deutlich gestiegen. Noch wichtiger aber ist, dass sogar die bislang bedingungslosen Anhänger nun die Nase voll haben und auf die Straße gehen. Die wirtschaftliche und soziale Situation mit Inflation, fehlenden Lebensmitteln und Medikamenten hat zu mehr Krankheiten, mehr Toten und noch mehr Hoffnungslosigkeit geführt. Die Lage ist so dramatisch, dass die meisten Menschen schlicht nur noch eines wollen: diese Regierung zum Teufel jagen.