Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
„Einmal die Woche essen gehen, das ist nicht drin“
Zehnkampf-Europameister Arthur Abele über seine Karriere, das WM-Jahr und seine kargen Einnahmen
NEU-ULM - Am Sonntag startet Arthur Abele, ältester Zehnkampf-Europameister der Geschichte, in die neue Saison. Beim Dortmunder Hallenmeeting tritt er über die 60 Meter Hürden gegen die Spezialisten an, etwa den EM-Siebten Gregor Traber aus Meckenbeuren. Im Interview mit Jürgen Schattmann spricht der 32-Jährige Neu-Ulmer über seine Erfahrungen in Berlin, seinen strapazierten Körper und seine Ziele im WM-Jahr.
Herr Abele, Sie wurden mit 40 Prozent der Stimmen zum Leichtathleten des Jahres gewählt, vermutlich auch, weil Sie trotz schlimmster Verletzungen nie aufgegeben haben. Sind Sie für Ihre Mitmenschen und Mitsportler gefühlt ein Vorbild?
Ich bin in jedem Fall zu einer Art Stehaufmännchen der Leichtathletik geworden und denke schon, dass ich viel Motivation und Glauben an Jung und Alt weitergeben kann und gebe. Es geht eben darum, nicht zu schnell den Kopf in den Sand zu stecken im Leben, hart an sich weiterzuarbeiten. Eine Verletzung ist im Endeffekt immer nur eine Pause, die dauert – wenn man aber positiv damit umgeht und sie dazu nutzt, um an seinen Schwächen zu arbeiten, kann man stärker zurückkommen. Da konnten sich viele Menschen drin spiegeln. Mein Leben hat polarisiert, es war eine Leidensgeschichte, die Identifikation erzeugte. Viele sagten: Dem gönnen wir es jetzt einfach.
Gibt es auch Verletzungen, die ein Abele nicht überstehen würde?
Bei einem Trümmerbruch, bei dem das Sprunggelenk versteift werden muss, könnte auch ich nichts machen. Wichtig ist, optimistisch zu bleiben. Im ersten Moment sollte man alles rausschreien – diese Kacke, warum schon wieder ich –, das ist wichtig, auch um aufnahmefähig zu sein für neuen Input. Man kann extrem viel aus seinem Körper rausholen, viel kompensieren, über Muskulatur, Beweglichkeit, mit neuen Methoden aus anderen Disziplinen, anders belasten , den Bewegungsablauf verändern. Etwa exzentrisches Training oder neuronales, für Sympathikus und Parasympathikus. Es geht auch darum, neue Wege zu gehen – wer das nicht will oder zu faul ist, muss damit leben, dass seine Karriere schneller zu Ende ist.
Außerdem hilft Ihnen in jeder Disziplin ein geheimnisvolles Mittelchen, wie Sie in Berlin zugaben.
Ja, der Gel-Chip von Ultrasport. Das ist eine Art Marshmallow mit Guarana und Glucose und Dextrose drin, den zerbeißt man, steckt ihn in die rechte Backentasche – Gehirn und Körper nehmen die Energie über die Mundschleimhaut ganz schnell auf. Nach zehn Minuten bist Du in der Birne wieder voll am Start, und der Magen wird geschont. Das pusht ungemein, vor allem in Phasen, in denen Körper und Geist in den Keller gehen. Trotz aller Energie und Erfolge: Finanziell könnten Sie besser dastehen. Ihr Ulmer Ex-Trainer Wolfgang Beck meinte im Sommer, es sei unfassbar, wie wenig der König der Athleten in Europa verdiene.
Ich mache den Sport, weil ich eine unglaubliche Leidenschaft dafür habe, weil es eine Lebenseinstellung ist. Aber ja, es ist bitter – und auch bedenklich. Der Verdienst ist so unglaublich weit weg von Fußball. Ich bin Stabsunteroffizier bei der Bundeswehr, damit kann ich meine Miete zahlen, essen, Auto fahren und meine kleine Familie versorgen, aber am Monatsende ist nichts mehr übrig. Einmal die Woche essen gehen, das ist nicht drin, man muss schauen, dass es am Monatsende hinhaut. Ich kriege knapp 2300 Euro netto raus über die Bundeswehr, außerdem ein wenig Sporthilfe, durch Sonderaktionen kommt ab und an vielleicht ein Hunderter dazu.
Keine neuen Sponsoren nach Berlin, trotz Ihrer Phoenix-aus-der-AscheSisyphos-Geschichte?
Nein, es hat sich nichts geändert – von ein paar Händedrücken abgesehen. Es gab ein paar Fernsehshows, ich war beim Skispringen, da bekommt man mal was, aber nichts, was bleibt. Im Gegenteil: Ich muss gerade mit Nike um einen neuen Ausrüstervertrag kämpfen. Nike will künftig vor allem auf Social-Media-Blogger setzen. Nur wer 20- bis 30 000 Follower auf Instagram hat, wird unterstützt, dann haben sie noch die Frauen-Schiene und unterstützen die Läufer. Da ich mit 32 schon älter bin und erst nach Berlin mit Instagram begann – vorher war ich nur auf Facebook aktiv mit meinen 2000 Followern – bin ich ein wenig out. Es gab noch keine Rückmeldung, aber wenn Nike weg wäre, würde es richtig böse. Dann hätte ich keine Ausrüstung mehr – Klamotten, Schuhe, Stäbe –, das käme ultrateuer. Ich brauche sehr viele Schuhe – für Lauf und Sprung und Werfen, mit Spikes und ohne. Jeder Schuh kostet 150 bis 200 Euro, das geht ins Geld.
Die Ulmer Wirtschaft floriert doch. Wir haben inzwischen fünf Achttausender in Ulm durch Neuzugang Florian Obst, sind die stärkste Trainingsgruppe der Welt im Zehnkampf und haben in Christopher Hallmann auch den Trainer des Jahres. Es gibt viele, die uns unterstützen könnten, aber die wollen offenbar nicht so richtig. Ulm ist sehr Fußball- und Basketballfixiert, so dass es die SSV-Leichtathletik und der Einzelne unglaublich schwer haben, Sponsoren zu generieren. Wir sind dankbar über alle, die uns helfen: Die Sparkasse Ulm vor allem, die das Projekt Tokio 2020 vorantreibt. Ich starte jetzt bei drei Hallenmeetings und in Karlsruhe als Ehrengast, aber offenbar zieht das nicht. Wir haben nicht so viel Medien- und TV-Präsenz.
Ist die Sportförderung noch zeitgemäß? Was müsste sich ändern?
Wir sind unglaublich dankbar, dass wir Polizei und Bundeswehr haben, sie sind das Fundament, ohne sie könnten wir den Sport gar nicht ausüben. Aber danach hört es schon auf, du verdienst eben nichts. Die staatliche Lotterie lässt sich noch ausbauen, klar, aber auch die Politik sollte das System nochmal überdenken. Der DOSB kürzt ja nur noch, kleine Stützpunkte werden wegrationalisiert, alles zentralisiert. Das ist der falsche Weg. Da macht man’s uns schwerer, dem Nachwuchs schwerer, weil die Kids immer noch weitere Wege haben und von ihrer Heimatfamilie wegmüssen.
Im März bei der Hallen-EM in Glasgow fehlt Frankreichs Weltrekordler Kevin Mayer, der nächste AbeleSieg scheint möglich. Danach gilt es erst mal, sich zu qualifizieren für die WM in Doha in Katar im September. Ich werde als Favorit nach Schottland reisen neben Kai Kazmirek und dem Briten Tim Duckworth, natürlich will ich vorne landen. Für Katar sind sicher 8400 Punkte nötig, allein wenn ich sehe, was meine Jungs im Training abziehen. Die wollen die Krone stürzen. Es wird nicht einfacher.
In Katar erst recht nicht – draußen hat es dort Ende September 40 Grad. Und im Stadion haben Sie eine Aircondition eingebaut, sie können das Dach schließen. Das wird tricky. Die Frage ist, ob die Monstergebläse und der Wind Störfaktoren werden etwa im Sprint oder beim Speerwurf, ob man sich einen Zug holt, ob die Luft beim Atmen stört. Man muss vorbereitet sein: Mit Kühlwesten den Körper auf ideale Leistungstemperatur bringen. Das wird schwer, aber für alle.
Katar ist nicht gerade Favorit auf den Friedensnobelpreis für die Einhaltung der Menschenrechte. Wie denken Sie über die Vergabe?
Man muss sie nicht verstehen, auch nicht sportlich. Was hinter der Wahl steckt – Gelder, Geldflüsse –, darüber kann man nur spekulieren. Es ist so unglaublich heiß dort, dass man die WM und die Saison von allen nach hinten verschiebt, dafür geht die Olympiasaison dann früher los. Aber wir Sportler haben darauf keinen Einfluss. Den Luxus, dort nicht zu starten, habe ich leider nicht. Es ist bitterböse zu sehen, wie solche Stadien zustande kommen, wie Arbeiter in Katar behandelt werden, nur: Dann hätte ich Rio oder Peking auch boykottieren müssen, wo es Korruption gab und/oder Slums umgesiedelt wurden, wo jetzt alles verrottet und nicht nachhaltig gearbeitet wurde. Ich bin leider nur ein kleines Licht: Ich will meinen Sport ausüben, so gut es geht, mein Land vertreten.
Das ist Ihnen so gut geglückt, dass Sie mit Hindernis-Europameisterin Gesa Krause zum Tag der offenen Tür ins Kanzleramt eingeladen wurden. Es gibt ein schönes Bild zu dritt, auf dem Frau Merkel ihre berühmte Fingerraute macht.
Wir waren dort Teilnehmer einer Podiumsdiskussion, und Frau Merkel hat es sehr souverän gelöst, auch, als das Thema aus Berlin nochmal hochkam – warum sie nicht im Stadion war oder wenigstens eine Videobotschaft schickte, wie ich damals vorschlug. Das haben wir und sie dann alle weggeschmunzelt. Ich kann nicht klagen, es war schön dort: Wir haben eine Spezialführung durchs Kanzleramt bekommen, das ist sehr selten.
Im Herbst waren Sie drei Monate bei der Bundeswehr in Warendorf und haben parallel den B-Trainerschein gemacht. Wollen Sie tatsächlich eines Tages Coach werden, mit noch geringerer Bezahlung?
Ja, ich hab vor, meine 25 Jahre Sporterfahrung als Trainer weiterzugeben. Beim SSV habe ich bereits das Stabhochsprungtraining geleitet, das kam gut an, ich fühl mich gut dabei. Ich werde noch den A-Schein machen und eine Zusatzausbildung bei der Bundeswehr. Der Verdienst mag gering sein, aber es ist eben eine Passion, und ich wäre dumm, diese Erfahrung nicht weiterzugeben – auch mit Vorträgen, die ich schon in Firmen gehalten habe.