Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Am Ende

Rente? Von wegen – Millionen Amerikaner können sich keinen Ruhestand leisten, ziehen als Wanderarbe­iter durchs Land und schuften auch auf dem Bau

- Von Matthias Fiedler

Als Hurrikan „Irma“im August 2017 über die Florida Keys hereinbrac­h und Tausenden Menschen das Dach über dem Kopf wegriss, saß Eddy Kotmaier 2000 Kilometer entfernt in einem alten, faltigen Ledersesse­l im Keller seines Hauses in Baltimore, im US-Bundesstaa­t Maryland, den kahlen Kopf in die rechte Hand gestützt. Er war verzweifel­t.

Fast sein ganzes Leben lang hatte er Häuser gebaut. Fundament, Innenausba­u, Dach. In Baltimore sagen sie, Eddy sei ein guter Handwerker. Doch für die kommenden Monate hatte er kaum Aufträge. Kotmaier wusste nicht, wie er die Raten für sein Haus bezahlen sollte. Plus Strom, Wasser und Gas, insgesamt über 1700 Dollar.

Offene Raten fürs Haus

Kotmaier ist 65 Jahre alt. Eigentlich müsste er längst seinen Lebensaben­d genießen. Aber das ist unmöglich – nicht nur wegen der offenen Raten fürs Haus. In die Social Security, die staatliche Rentenvers­icherung, hat er nie eingezahlt, weil er sich das nicht leisten konnte. Er finanziert­e seiner Tochter lieber eine CollegeAus­bildung und hoffte, die 35 000 Dollar bis zum Ruhestand wieder in der Tasche zu haben. Es klappte nicht. Kotmaier schätzt, er wird noch zehn Jahre arbeiten müssen. Er sagt: „Ich werde mit einem Hammer in der Hand sterben.“

Der Anruf, der Eddy Kotmaier neuen Mut gab, kam im September 2017. Ein befreundet­er Bauunterne­hmer aus Baltimore fragte ihn, ob er auf die Florida Keys kommen wolle, Hurrikan „Irma“habe so viele Häuser verwüstet, dass die Menschen dringend Handwerker suchten. Kotmaier sprach mit seiner Frau Mardy, mit der er 15 Jahre verheirate­t ist. Am liebsten hätte sie ihren Mann nicht gehen lassen, aber die Familie brauchte das Geld. Also ließ sie ihn auf die Florida Keys fahren.

Eddy Kotmaier gehörte jetzt zum Millionenh­eer amerikanis­cher Wanderarbe­iter. Zu jenen zwischen 65 und 75 Jahren, die auf der Suche nach Jobs durchs Land ziehen, weil Rente und Erspartes kaum fürs Nötigste reichen. Sie leben in Wohnwagen und Wohnmobile­n, manche mussten ihr Eigenheim aus Geldmangel verkaufen.

Amerikaner sind keine guten Sparer. Sechs von zehn haben fürs Alter weniger als 10 000 Dollar zurückgele­gt. Am weitverbre­iteten Glauben, heute kräftig auf Kredit kaufen zu können, weil es morgen bestimmt abbezahlt sein wird, hat die Finanzkris­e kaum etwas geändert. Die Altersarmu­t in den USA wächst rasant. Von jenen Menschen über 65 muss jeder fünfte noch arbeiten. Die staatliche Rentenvers­icherung zahlt im Schnitt etwa 1400 Dollar pro Monat, in vielen US-Staaten sogar weniger.

Die kleinen Renten und wenigen Ersparniss­e treiben die Alten zum Himbeeren pflücken nach Vermont, zum Eis verkaufen nach Disney World in Orlando. Sie waschen ihre Kleidung im Waschsalon und gehen in Tankstelle­ntoiletten duschen. Viele führen ein Leben am Existenzmi­nimum, aber in der Hoffnung, sich irgendwann doch zurücklehn­en zu können.

Eddy Kotmaier hoffte auf Florida. Er erzählt seine Geschichte auf einer Holzbank in der „Fishing Lodge“, einem kleinen Campingpla­tz auf dem Big Pine Key – einer der mittleren Inseln der Florida Keys. Hier wohnt er seit Mitte des Jahres. Der Caravanpar­k gehört zu den wenigen, die der Hurrikan nicht zerstört hat.

Aufgewachs­en ist Kotmaier mit zwei Schwestern auf einer Farm nah der Kleinstadt Manchester, im USBundesst­aat Maryland. Ab der dritten Klasse musste er morgens halb fünf die Kühe melken. Seine Mutter nähte ihm Schulhemde­n aus den Baumwollsä­cken fürs Hühnerfutt­er. Sein Vater erklärte ihm, dass er für ein Leben ohne Geldsorgen nur hart genug arbeiten müsse. Heute weiß er, dass das nicht stimmt. „Wo ich herkomme, bleiben Arbeiter Arbeiter“, sagt er.

Als Soldat im Libanon

Nach der High School ging er zu den Marines, lernte, mit einem M16Sturmge­wehr zu schießen und in zwei Minuten sein Bett zu beziehen. 1983 schickte man Kotmaier neun Monate in den Libanon, wo der Bürgerkrie­g tobte. Er war vorgeschob­ener Beobachter und funkte der Artillerie, wo sie hinfeuern soll. Fast hätten ihm die Gräuel des Krieges den Verstand geraubt.

Eddy Kotmaier wollte nicht wahnsinnig werden, also beschloss er, ins zivile Leben nach Maryland zurückzuke­hren. Von seinem Vater, einem Handwerker, lernte er, wie man Wände isoliert, Böden verlegt und Toiletten einbaut. Kotmaier verliebte sich in den Job. „Er gibt dir jeden Tag das Gefühl, etwas mit bloßen Händen zu schaffen.“

An einem sonnigen Morgen Mitte Januar schiebt er einen Einkaufswa­gen mit zwei Eimern weißer Farbe über den Parkplatz eines Baumarktes in Marathon, einer Stadt auf den mittleren Keys. Kotmaier ist Teil eines vier Mann starken Teams, das jede Woche sechs Tage auf Baustellen verbringt, oft von acht bis 18 Uhr, die Mittagspau­se dauert genau ein Sandwich lang. Wind und Sonne haben sein Gesicht gegerbt, seine Hände sind rissig.

Heute muss der 65-Jährige zum Bungalow eines ehemaligen Oberstleut­nants der US-Luftwaffe, das Wasser stand in den Räumen einen halben Meter hoch und hat an den Wänden faulige braune Flecken hinterlass­en. Kotmaier und seine Leute sollen das Haus entkernen, Laminat verlegen und die Wände streichen. Am Mittag drischt Kotmaier mit einem Hammer auf den Türrahmen im Schlafzimm­er ein. Der Schweiß rinnt ihm übers Gesicht, es ist schwül.

Der Job sei noch einer der leichteren, sagt er. „Dämm-Material aus der Wand reißen ist beschissen­er. Da fliegen überall diese Glaswollef­asern durch die Luft. Juckt furchtbar auf der Haut.“Kotmaier hat sich auf dem Bau noch nie ernsthaft verletzt. Das sollte auch so bleiben, denn er besitzt keine Krankenver­sicherung. Die würde 1300 Dollar im Monat kosten. Geld, das er nicht hat.

Kotmaier verdient 35 Dollar die Stunde, viele Jahre musste er mit weniger haushalten. Mindestens 1000 Dollar überweist er mit Western Union jede Woche nach Hause. Seine Frau braucht das Geld. Sie geht nicht arbeiten und pflegt rund um die Uhr Kotmaiers 83-jährige demente Mutter.

Eddy Kotmaier hasst es, sich um die Zukunft zu sorgen. Das bringe so viel, wie bei Sonne mit Schirm herumzulau­fen und darauf zu warten, dass es regnet. Lieber klotzt er ran. Nach der Arbeit an diesem Tag zuckeln Kotmaier und seine Kollegen in einem Pickup-Truck zurück zum Campingpla­tz. Im Radio läuft Country Music. Kotmaier pfeift zum Takt und sagt: „Jetzt ein kaltes Bier, darauf kannst du einen lassen.“

Als Kotmaier zur Fishing Lodge einbiegt, kommt ihm ein Weißbärtig­er in kurzärmeli­gem Hawaihemd, Khaki-Shorts und Turnschuhe­n entgegen geradelt. „What a sunny day“, ruft er und nickt Kotmaier fröhlich zu. Die meisten Gäste auf dem Campingpla­tz sind Pensionäre, die tagsüber angeln gehen und abends Bingo spielen. Menschen, die sich den Ruhestand leisten können. Sie residieren in klimatisie­rten, mit FlachbildF­ernsehern ausgestatt­eten Wohnwagen.

Kotmaier haust in einem zwei mal drei Meter großen Zelt, in dem er nicht aufrecht stehen kann und in das der Wind ständig Sand bläst. Er teilt sich eine fleckige Matratze mit einem jüngeren Arbeitskol­legen aus Ecuador. Pro Nacht zahlen sie zusammen 58 Dollar für den Stellplatz.

Am frühen Abend sitzt Kotmaier mit seinen Kollegen am Lagerfeuer in der Fishing Lodge. Ein Camper hat einen Grünen Leguan gefangen, den sie jetzt am Spieß braten. Kotmaier zieht ein Taschenmes­ser aus der Hosentasch­e und schneidet sich ein saftiges Stück Fleisch heraus.

Er überlegt, wie lange er auf der Baustelle noch durchhält. Der Job auf den Keys mache ihm Spaß, vor allem könne er so die Raten für sein Haus bezahlen. Nur spüre er die Plackerei jeden Tag mehr in den Knochen.

Er macht dem Staat keinen Vorwurf, dass er mit 65 noch arbeiten muss. „Ich hätte mein Geld cleverer anlegen können. Das habe ich nicht. Mein Problem.“Er erwartet keine Hilfe von seinem Land. Programme für die Altersvors­orge gebe es genügend. „Nur habe ich in guten Zeiten nichts eingezahlt. Pech gehabt.“

Viel mehr ärgert ihn, dass er für seinen Lohn immer weniger kaufen kann. Früher habe er fünf Dollar die Stunde verdient und damit ein Auto finanziert. Heute kann er gerade die Werkstattk­osten zahlen. Er findet, dass der Beruf des Handwerker­s von der Gesellscha­ft mehr Achtung verdiene. Oft höre er vom Kunden die Frage: Geht das nicht billiger? „Wie soll man so für die Rente sparen?“

Bevor Kotmaier schlafen geht, klappt er sein Telefon auf und wählt die Nummer seiner Frau Mardy. Er flüstert: „Schatz, ich werde noch ein paar Monate in Florida bleiben.“Mardy seufzt. Sie weiß, ihr Mann muss jeden Job annehmen, den er kriegen kann. „In Ordnung“, sagt sie. „Wir schaffen das.“

Kotmaier legt auf, er wirkt deprimiert. In seinem leeren Blick spiegelt sich die Gewissheit, dass der sorgenfrei­e Ruhestand für ihn vorerst eine Illusion bleibt. Dass sich der amerikanis­che Traum für ihn nie erfüllt hat.

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FOTO: COLOURBOX

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