Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
„Sara darf nicht sterben!“
Für das kleine Mädchen mit einer seltenen Stoffwechselkrankheit zählt jeder Tag – es gibt nur noch eine Hoffnung
„Aber dass ich dann zusammengebrochen bin, das weiß ich noch.“
Mutter Siham Theimer über das Gewissheit schaffende Telefonat
„Das ist mir am Anfang nicht leicht gefallen, an die Öffentlichkeit zu gehen.“
Siham Theimer über ihren Spendenaufruf
ROMANSHORN - Der Anruf, der das Leben der Familie Theimer für alle Zeit verändern wird, kommt im Jahr 2016: Mutter Siham, die tunesische Wurzeln hat und in München aufgewachsen ist, geht es eigentlich gerade besonders gut, weil ihr Kochbuch über mediterranes Essen sich bombig verkauft. Alles bestens – wenn da nicht die größer werdenden Sorgen um die kleine Sara wären, die in letzter Zeit ihrem ursprünglichen Bewegungsdrang immer weniger nachkommt. Das Laufen fällt ihr schwerer und schwerer, auch beim Essen hat sie zusehends Schwierigkeiten. Und: Sara hört auf zu sprechen.
Die Eltern versuchen mit Ärzten herauszufinden, was dem Kind fehlt. Lange winken die Doktoren ab und beruhigen das Paar. Man müsse sich keine Sorgen machen. Blut und Urin seien in Ordnung. Warum aber baut Sara dann immer mehr ab? Die Ursachenforschung geht weiter und führt von Spital zu Spital, bis die Familie Theimer schließlich an der Zürcher Uniklinik landet. Neurologie. Dort wieder Untersuchungen. Eine Magnetresonanztomografie (MRT) zählt dazu. Weitere Tests. Erste Andeutungen, nichts Konkretes. Tage später der Anruf aus dem ärztlichen Sekretariat: „Frau Theimer, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Tochter an einer schweren …“Die Details des Telefonats sind in Siham Theimers Gedächtnis verblasst. „Aber dass mir der Hörer aus der Hand gefallen ist und ich dann zusammengebrochen bin, das weiß ich noch“, erinnert sich die 42-Jährige heute.
Es hat ein wenig gedauert, bis Siham Theimer das hässliche Wort Gangliosidose gelernt hatte. Gehasst hat sie es vom ersten grauenhaften Moment an, als es die Ärzte nach der medizinischen Irrfahrt schließlich nannten: G-M-1-G-a-n-g-l-i-o-s-i-do-s-e. Ein Begriff, der selbst wie eine Wortkrankheit klingt. Dahinter verbirgt sich – kurz gesagt – ein Gendefekt, der dafür sorgt, dass Zucker und Fette in den Zellen des Nervensystems von Sara nicht mehr richtig abgebaut werden. Betroffenen fehlt es
an einem Enzym, das die Zellen sozusagen reinigt und sauber hält. Mit fatalen und im Augenblick noch unheilbaren Folgen: Betroffene Kinder verlieren wieder all ihre zuvor erworbenen Fähigkeiten. Sie werden unbeweglich, müssen künstlich ernährt werden, können allein weder stehen, liegen, sitzen noch gehen. Saras Sehfähigkeit nimmt Tag für Tag ab. Krämpfe zwingen sie in regelmäßigen Abständen in die Notfallambulanz des Krankenhauses. Am Ende steht ein früher Tod, von dem Siham Theimer nicht weiß, wann er kommt. Vielleicht in zwei Jahren, vielleicht in drei. Womöglich überlebt Sara, bis sie zehn oder elf ist.
Studie kostet 400 000 Euro
Dass die kleine Sara vielleicht doch älter werden könnte, ist womöglich eine Frage des Geldes – davon ist ihre Mutter überzeugt. Denn während bei Volksleiden wie Diabetes oder Bluthochdruck ein neues Medikament auf einen gigantischen Massenmarkt mit Milliardenpotenzial trifft, ist der Markt für die Stoffwechselkrankheit Gangliosidose winzig klein. Und die Entwicklung einer wirkungsvollen Pille verschlingt trotzdem enorme Summen. Das ist einer der Gründe, warum es für Saras Leiden keine Arznei gibt. Noch nicht: Denn ein vielversprechendes Medikament steht kurz vor der klinischen Studie – allein es fehlen 400 000 Euro, damit die kleine Schweizer Pharmafirma Dorphan nahe Lausanne den nächsten Schritt machen kann. Siham Theimer setzt all ihre Hoffnungen auf die Forschung dieses Unternehmens. Viel Zeit bleibt Sara aber nicht mehr.
Heute hat Sara einen relativ guten Tag. Das rosarote Einfamilienhaus in einem Wohnviertel von Romanshorn ist von der Sonne beschienen. Siham Theimer hat ihre Tochter schön gemacht: rosa Glitzerschuhe, buntes Kleidchen, rosa Haargummis. Das Kind sitzt mit einem Brustkorsett gesichert in einem Rollstuhl. Seine Augen sind halb geöffnet. Ihre Mutter achtet auf jedes Geräusch, das aus dem kleinen Körper dringt. Sara ist ein Kind, das mit jedem Tag, an dem es noch auf dieser Welt lebt, ein bisschen weniger kann und ein bisschen mehr verlernt. Als ob sie an einer bestimmten Stelle ihrer jungen Kindheit umgekehrt sei und sich vom natürlichen Weg des Wachsens und Größerwerdens verabschiedet hätte. Es gibt Videoaufzeichnungen aus der Zeit, als sie ungefähr zwei Jahre alt ist: Sie zeigen ein fröhliches Mädchen, das mit Neugierde eine noch unbekannte Welt entdeckt. Das um das Sofa herumtobt und bald Mama und Papa sagen kann. Das gelernt hat, sich die besten Happen zu schnappen, fest entschlossen, dieses Leben bei den Hörnern zu packen und loszulaufen in eine großartige Zukunft. Die Sara von heute, kurz nach ihrem sechsten Geburtstag, ist unbeweglich, fast erblindet. Ein Kind, das nur schwer atmen kann, begleitet von einem steten Gurgeln, unterbrochen von gelegentlichem Husten.
„Ich kann nicht zulassen, dass meine Tochter jeden Tag ein bisschen mehr stirbt, nur weil das Geld fehlt“, sagt ihre Mutter. Aus dieser entschlossenen Stimme spricht ein Trotz, der wahrscheinlich übrig bleibt, wenn die Verzweiflung bereits alle Tränen aus der Seele gewaschen hat. Siham Theimer jedenfalls hat das Gefühl, für den Rest ihres Lebens genug geweint zu haben, wie sie sagt. „Ich möchte alles dafür tun, damit sie am Leben bleibt.“Unzählige Nächte hat sie vor dem Rechner gesessen und das Internet durchforstet. Einfach zu akzeptieren, dass es keine Heilung gibt, kommt für Siham Theimer nicht infrage. In den USA stößt sie auf Forschungen, die sich ganz auf die Gene konzentrieren – also nach einer Lösung suchen, um den Ausbruch der Krankheit zu verhindern. „Aber Sara kann davon nicht mehr profitieren. Sie hat die Gangliosidose ja schon!“Das Wechselbad zwischen Hoffen und Verzweifeln geht weiter. Bis die Mutter irgendwann den Namen Stéphane Demotz liest.
Der Wissenschaftler, der früher für große Pharmaunternehmen gearbeitet hat, forscht an einem Medikament, das aus seiner Sicht gute Chancen hat, die Stoffwechselkrankheit zu lindern, denn: „Die Verbindung, die wir entwickelt haben, zeigt starke Wirkung in Zellen von Patienten.“Im Labor besitze es die Fähigkeit, die Ansammlung von Abbauprodukten des Stoffwechsels, die das Leiden verursache, zu reduzieren. Und warum ist das Unternehmen Dorphan auf fremde Gelder angewiesen, damit das Medikament in einer klinische Studie am Menschen erprobt
werden kann? Demotz erklärt das so: „Generell ist die Entwicklungsarbeit für fast jede Art von Medikament ein riskantes Abenteuer.“Niemand wisse am Ende, ob es so wirkt wie erhofft. Keiner könne sagen, was die Therapie am Ende koste. Dorphan sei aber deshalb gegründet worden, um dem rein wirtschaftlichen Denken bei der Entwicklung von Medikamenten gegen sehr seltene Krankheiten etwas entgegenzusetzen. Das bedeute aber auch, dass die Firma – anders als Multimilliardenkonzerne – auf Unterstützung angewiesen sei. Zum konkreten Fall von Sara sagt Stéphane Demotz: „Die Wahrscheinlichkeit, dass unser Medikament die Zuckerbestandteile absenken kann, ist hoch.“Ob es die neurologischen Funktionen im Körper des kleinen Mädchens verbessere, sei allerdings zweifelhaft. „Vielleicht auf lange Sicht“, sagt Demotz.
Siham Theimer bekommt rote Bäckchen, wenn sie an diese Chance denkt. Nach der Diagnose ist sie zunächst in ein bodenloses Loch gefallen. Und es hat eine gewisse Zeit gebraucht, um sich wieder aufzurappeln. „Jetzt aber kämpfe ich mit aller Macht. Sara darf nicht sterben!“Neben der Pflege ihrer Tochter, die jetzt ein bisschen wacher wirkt, seit die Wintersonne durch die Fenster fällt, ist ihr Lebensinhalt das Sammeln von Spenden geworden – und sie tut das vor allem in den sozialen Netzen und im Internet. Unter der Internetadresse de.gofundme.com/cure4sara erzählt sie in einem Video das Schicksal der kleinen Familie nach, zeigt Bilder von Sara. „Das ist mir am Anfang nicht leicht gefallen, an die Öffentlichkeit zu gehen“, sagt Siham Theimer. Den meisten Betroffenen fehle die Kraft. Doch die 42-Jährige sieht darin die einzige Chance, etwas gegen die Krankheit zu unternehmen – „nicht nur für Sara, sondern für alle Patienten“. Auch wenn es nur sehr wenige sind: Stéphane Demotz spricht von etwa 1000 diagnostizierten Fällen in Europa und den USA zusammengenommen.
Ernährung über Magensonde
Das Familienleben steht unübersehbar unter dem Einfluss des Schicksals von Sara: Das ist allein schon sichtbar an all den medizinischen Hilfsmitteln, die das Haus füllen: Rollstühle, eine Apparatur, in der das Kind physiotherapeutisch betreut wird, zwei randvolle Schubladen mit Medikamenten – gegen die Krämpfe, gegen die Schmerzen, die Sara so müde und matt machen. Und eine Sammlung großer Kunststoffspritzen, mit deren Hilfe das Kind über eine Magensonde ernährt wird, liegt auf der Küchentheke. „Dabei hat sie mein Essen immer so geliebt“, sagt ihre Mutter jetzt und ordnet den Saum des bunten Kleides, das über die unbeweglichen Glitzerschuhe von Sara fällt.