Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Keine heile Welt
Auch im Kreis Ravensburg wüteten die Nazis – Zahlreiche Verbrechen sind erforscht
RAVENSBURG - Die heile Welt des ländlichen Oberschwabens war nicht immer heil. Auch hier wütete das Nazi-Regime mit voller Macht, auch hier gab es Todesmärsche von KZ-Häftlingen, getötete Zwangsarbeiter, ermordete Deserteure. Viele dieser Schicksale sind nur wenig bekannt. Einige Fälle aus dem Gebiet des heutigen Landkreises Ravensburg werden nachfolgend dargestellt. Anlass ist die aktuelle AnneFrank-Ausstellung im Ravensburger Medienhaus, die sich mit der NSVerfolgung der Juden befasst.
Ravensburg
Ein Symbol des NS-Unrechtsstaat in Ravensburg war das „Rote Haus“, das inzwischen abgebrochene Gefängnis beim Schellenberger Turm. Hier wurden nach der Machtergreifung der Nazis politische Häftlinge interniert. 35 Internierte sind heute nachweisbar. Oft gerieten sie schon wegen Kleinigkeiten in Haft, zum Beispiel aufgrund der Weigerung, den Hitlergruß zu zeigen.
Sieben jüdische Familien lebten zu Beginn der 1930er-Jahre in Ravensburg. Vor allem von 1935 an waren sie massiveren Repressalien ausgesetzt. Den meisten Juden gelang vor oder kurz nach der Reichspogromnacht 1938 die Flucht, acht jüdische Ravensburger wurden von den Nazis ermordet.
Im Rahmen des sogenannten Euthanasieprogramms T4 wurden zwischen Mai und Dezember 1940 mindestens 677 Patienten der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Weißenau in die Tötungsanstalt Grafeneck auf der Schwäbischen Alb deportiert. Im März 1941 folgten 14 weitere kranke Menschen zur Ermordung nach Weinsberg. Seit 1996 gedenken die Stadt Ravensburg und das Zentrum für Psychiatrie am 27. Januar den Opfern.
Im Heilig-Geist-Spital fanden von 1934 an Zwangssterilisationen statt. Die Opfer waren psychisch Kranke, Epileptiker, Taubstumme oder auch Menschen mit Depressionen. 106 von ihnen stammten aus der Heilanstalt Weißenau, 83 aus Rosenharz, 13 aus der Taubstummenanstalt Wilhelmsdorf. Von 1936 an waren Zwangssterilisationen der häufigste chirurgische Eingriff im Städtischen Krankenhaus.
3600 Zwangsarbeiter mussten in Ravensburg und Weingarten während des Zweiten Weltkriegs schuften. Größter „Arbeitgeber“waren die Städte selbst, insgesamt sind 86 Betriebe nachgewiesen, die Zwangsarbeiter beschäftigten. Das größte Zwangsarbeiterlager befand sich in der Ziegelstraße 16. Zwischen 37 und 42 Zwangsarbeiter sowie 14 bis 19 ihrer Kinder starben während ihrer Zeit in Ravensburg. Sie sind auf dem Hauptfriedhof bestattet.
35 Ravensburger Sinti wurden am 13. März 1943 nach AuschwitzBirkenau verschleppt. Lediglich sechs von ihnen kamen mit dem Leben davon. Seit 1999 erinnert an sie ein Mahnmal an der St.-Jodok-Kirche.
Weingarten
Aufgrund seines früheren Engagements für die Sozialdemokraten und seines anhaltenden Widerstands gegen die NS-Oberen wurde der Weingartener Joachim Brunner im September 1943 verhaftet. Er kam in verschiedene Konzentrationslager und starb im März 1945 in Mauthausen. Ob ihn die Strapazen der Haft töteten oder ob er ermordet wurde, ist nicht eindeutig geklärt.
Neben 104 Kriegsgefangenen gab es in Weingarten auch 1135 ausländische Zwangsarbeiter. Am schlimmsten erging es dabei den Russen, fast 300 von ihnen waren im sogenannten Russenlager bei der Maschinenfabrik in der Abteistraße 5 untergebracht. Bis Kriegsende kamen 230 Zwangsarbeiter in Weingarten ums Leben, allein zwischen Februar und März 1945 verstarben 32 Russen.
Leutkirch
Am 27. April 1945, einen Tag vor dem Einmarsch der Franzosen, räumten die beiden Leutkircher Josef Luz und Michael Maischberger eine Panzersperre in der Memminger Straße, um die Stadt vor größerem Schaden zu bewahren. Die SS ermordete beide Männer umgehend. Zur Abschreckung wurden ihre Leichen im Schwanengässle zur Schau gestellt.
15 deutsche Soldaten wurden am 26. April 1945 zwischen Diepoldshofen und Bauhofen erschossen. Die Männer waren zum Tode verurteilt worden, Hauptmann Otto Siebler ordnete ihre Ermordung an. Ein Verfahren gegen ihn wurde nach dem Krieg eingestellt, da ihm „im juristischen Sinne keine Schuld“nachgewiesen werden konnte.
Bad Waldsee
Auf einem Todesmarsch vom KZ Natzweiler ins KZ Dachau fanden vier Männer auf dem heutigen Bad Waldseer Stadtgebiet den Tod: Die beiden französischen Häftlinge Auguste Bonal und Lucien Monjoin, die bei Mittelurbach starben. Bei Haisterkirch fand man zwei Tage später, am 25. April 1945, die Leichen der Deutschen Karl Panhans und Julius Spiegel. Ob die Männer Fluchtversuche unternahmen oder aufgrund ihrer Entkräftung erschossen wurden, ist unbekannt.
Bad Wurzach
Im früheren Salvatorkolleg im Wurzacher Schloss, von den NS-Behörden geschlossen, befand sich nach 1940 ein Kriegsgefangenenlager. Zunächst lebten hier Franzosen, von 1942 an waren es über 600 Zivilinternierte von den deutsch besetzten britischen Kanalinseln. Elf davon überlebten die Haft nicht. Zwischen November 1944 und Januar 1945 kamen 72 jüdische Häftlinge aus dem KZ Bergen-Belsen ebenfalls ins Wurzacher Schloss. Am 28. April 1945 erfolgte ihre Befreiung durch die französischen Truppen.
Aulendorf
Acht KZ-Häftlinge, die auf einem Todesmarsch Aulendorf durchquerten, fanden hier im April 1945 ihr Ende. Entweder sie wurden erschossen oder starben an Entkräftung. Sie wurden in einem Sammelgrab auf dem Aulendorfer Friedhof bestattet. Ihre Identität konnte nie geklärt werden.
Wilhelmsdorf
Am 24. März 1941 kamen die „grauen Busse“zur Taubstummenanstalt Wilhelmsdorf und holten 19 Patienten ab, 18 von ihnen wurden in Hadamar ermordet. 1943 wurden weitere 40 Wilhemsdorfer mitgenommen, zehn davon überlebten nicht.
Baienfurt
Die Gemeinde Baienfurt gedenkt seit 2017 mit einem Mahnmal der zehn NS-Opfer des Dorfes. Sechs von ihnen wurden im Rahmen des sogenannten Euthanasie-Programms ermordet. Die vier weiteren Getöteten: ein italienischer Zwangsarbeiter, eine geistig zurückgebliebene Frau, die kurzerhand als „arbeitsscheu“gebrandmarkt wurde, sowie zwei junge Frauen, denen vorgeworfen wurde, sich mit polnischen Zwangsarbeitern eingelassen zu haben. Sie starben vermutlich im KZ Ravensbrück.
Waldburg
In einer Kiesgrube bei Edensbach fanden wenige Tage vor Kriegsende zwölf Männer den Tod. Dort erschossen Soldaten zwei deutsche Deserteure und einen Tag später zehn polnische Zwangsarbeiter, die sie im Wald aufgegriffen hatten. Die Getöteten sind auf dem Friedhof Hannober bestattet.
Grundlage dieses Textes ist die Broschüre „Denkorte an oberschwäbischen Erinnerungswegen“, herausgegeben vom Denkstättenkuratorium NS-Dokumentation Oberschwaben und dem Studentenwerk Weiße Rose, die auszugsweise herangezogen wurde. Dieser Beitrag kann daher kein vollständiges Bild von NS-Verbrechen im Kreis Ravensburg geben. Weitere Infos gibt es unter: