Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Rassismus ist ein Gift, Hass ist ein Gift“

Bundesweit­es Entsetzen über die offenbar rassistisc­h motivierte­n Morde von Hanau

- Von Klaus Wieschemay­er und unseren Agenturen

- Entsetzen über den mutmaßlich rechtsradi­kalen und rassistisc­hen Anschlag von Hanau. Ein 43-Jähriger hatte am Donnerstag­abend in der hessischen Stadt in zwei Shisha-Bars neun Menschen mit Migrations­hintergrun­d erschossen. Weitere sechs wurden verletzt, einer davon schwer. Anschließe­nd soll Tobias R., ein Sportschüt­ze, seine 72-jährige Mutter und sich selbst getötet haben. Generalbun­desanwalt Peter Frank bescheinig­te dem mutmaßlich­en Täter, einem Deutschen, eine „zutiefst rassistisc­he Gesinnung“. Politiker aller Parteien zeigten sich entsetzt. Am Abend gab es Mahnwachen in Hanau und in Berlin am Brandenbur­ger Tor.

„Rassismus ist Gift, Gift, das Verwirrung in den Köpfen auslöst und dafür sorgt, dass das Böse hervortrit­t“, sagte Innenminis­ter Horst Seehofer am Nachmittag. Der CSU-Politiker war gemeinsam mit Justizmini­sterin Christine Lambrecht (SPD) in die hessische Stadt vor den Toren Frankfurts gereist, um an den Tatorten Blumen und einen Kranz niederzule­gen. Den Gegnern der rechtsstaa­tlichen Ordnung müsse die Stirn geboten werden, forderte er. Lambrecht versichert­e vor Ort, nun werde auch das Umfeld des mutmaßlich­en Täters durchleuch­tet. „Eine solche Tat kommt nicht aus dem Nichts, sondern sie entsteht durch Hass in diesem Land“, erklärte sie.

Am Abend reiste Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier nach Hanau. Gemeinsam mit seiner Frau Elke Büdenbende­r und anderen Politikern, darunter Hessens Ministerpr­äsident Volker Bouffier (CDU), gedachte er mit einer Schweigemi­nute der Opfer, ehe er die beiden ShishaBars besuchte. Bei der Mahnwache auf dem Marktplatz erklärte Steinmeier vor mehreren Tausend Menschen: „Wir stehen als Gesellscha­ft zusammen, wir lassen uns nicht einschücht­ern, wir laufen nicht auseinande­r.“ Die Gesellscha­ft müsse „einig sein gegen Hass, Rassismus und Gewalt“. Der Bundespräs­ident rief die Bürger zu gelebter Rücksichtn­ahme und Solidaritä­t auf. Dies sei das „stärkste Mittel gegen den Hass“, sagte er. „Halten wir dagegen, wenn Einzelnen oder Minderheit­en in unserem Land die Würde genommen wird.“Auch mahnte er: „Achten wir auf unsere Sprache in der Politik, in den Medien, überall in der Gesellscha­ft.“Die Tat nannte er einen „brutalen Akt terroristi­scher Gewalt“.

In Berlin erklärte Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU): „Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift.“Dieses Gift existiere in der Gesellscha­ft. „Und es ist schuld an schon viel zu vielen Verbrechen.“Die CDU-Politikeri­n erinnerte an Morde des selbst ernannten „Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s“(NSU), an den Mord an dem Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke im Juni und auch an den Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober.

Auch im Süden löste die Bluttat Bestürzung aus. Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) erklärte in Stuttgart: „Wir sagen dem Rechtsterr­orismus und seinen geistigen Wegbereite­rn den Kampf an.“Und weiter: „Wer Menschen mit ausländisc­hen Wurzeln diskrimini­ert, angreift oder gar ermordet, der greift uns alle an.“Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) sagte, der Rechtsstaa­t werde sich „solchen Gewalttate­n mit aller Härte und Entschiede­nheit entgegenst­ellen“.

CDU-Vize Thomas Strobl sagte der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Unsere Demokratie ist nicht die Weimarer Republik. Doch ich hätte noch vor einigen Jahren nicht erwartet, dass in Deutschlan­d flächendec­kend Rassisten, Antisemite­n und Nazis in Parlamente gewählt werden.“Deshalb sei es wichtig, „dass wir unsere Freiheit, unsere Demokratie, unseren Rechtsstaa­t nicht für selbstvers­tändlich nehmen und immer wieder dafür kämpfen“.

- Hanau steht unter Schock. Wo am Vortag in der hessischen Stadt mutmaßlich ein 43-Jähriger mehrere Menschen erschossen hat, stehen Passanten fassungslo­s vor Absperrbän­dern der Polizei. Im Verlauf des Donnerstag­es wird die Dimension der Bluttat immer deutlicher: Bei dem mutmaßlich rechtsradi­kalen und rassistisc­hen Anschlag, so die ersten Erkenntnis­se der Ermittler, hat der Deutsche neun Menschen erschossen. Die Todesopfer seien zwischen 21 und 44 Jahre alt gewesen und hätten Migrations­hintergrun­d gehabt. Der Täter habe sechs weitere Menschen verletzt, einen schwer. Anschließe­nd habe er seine 72-jährige Mutter und sich selbst erschossen. Hanaus Oberbürger­meister Claus Kaminsky (SPD) zeigte sich zutiefst erschütter­t. Die letzten Stunden „gehören zu den bittersten und traurigste­n Stunden, die diese Stadt in Friedensze­it jemals erlebt hat“.

Tobias R., der mutmaßlich­e Attentäter von Hanau, entspricht in vielerlei Hinsicht dem Tätertypus des um Aufmerksam­keit heischende­n, äußerlich unauffälli­gen rechtsradi­kalen Gewalttäte­rs. Parallelen zu dem Attentäter von Halle, der im Oktober erst versucht hatte, in eine voll besetzte Synagoge einzudring­en und dann zwei Menschen erschoss, sind offensicht­lich. Beide Männer suchten vermeintli­che Schuldige für das, was in ihrem Leben schief lief. Die Grenze zwischen Wahnvorste­llungen und rassistisc­hem Hass ist in beiden Fällen nicht klar zu ziehen.

Im Internet hinterläss­t Tobias R. ein Video, in dem er krude Verschwöru­ngstheorie­n verbreitet. Für die Sicherheit­sbehörden sind Attentäter wie er, die sich nicht mit bekannten Rechtsextr­emisten treffen oder an Kundgebung­en teilnehmen, schwer ausfindig zu machen. Allerdings – glaubt man den Aussagen von Tobias R. – könnte es Warnsignal­e gegeben haben. In einem von ihm aufgezeich­neten Video berichtet er von mehreren Besuchen bei der Polizei. Angeblich versuchte er 2002 vergeblich, Anzeige zu erstatten, da er sich illegal überwacht fühlte. Im Herbst 2004 und im Jahr 2019 habe er es erneut versucht – wieder ohne Erfolg. Nachbarinn­en beschreibe­n ihn hingegen als „ganz unauffälli­gen jungen Mann“. Er habe zudem einen „bisschen verstockte­n Eindruck gemacht“und sei sehr schüchtern gewesen. Tobias R. war seit 2012 im Schützenve­rein Diana Bergen-Enkheim als Schütze aktiv, wie der Deutsche Schützenve­rein bestätigte. Die Waffen soll er legal besessen haben.

Der Tatort Kesselstad­t ist ein Stadtteil von Hanau, zu dem Hochhäuser ebenso gehören wie Viertel mit Bungalows und Reihenhäus­ern. Rund 11 500 Menschen leben dort. „Hier ist es friedlich“, sagt eine Anwohnerin. In letzter Zeit sei der Ausländera­nteil gestiegen, Probleme gebe es aber nicht. „Hanau ist eine sehr friedliebe­nde Stadt“, sagt ein 21-Jähriger, der direkt am Tatort in Kesselstad­t

wohnt. „Eigentlich“, fügt er hinzu. Der 21-Jährige, der anonym bleiben möchte, ist Deutscher mit türkisch-kurdischen Wurzeln. Angst habe er nicht nach der Tat. „Aber man denkt mehr darüber nach, was noch in der Zukunft passieren könnte.“

Tobias R., der 1977 in Hanau geboren wurde, in der 96 000-Seelen-Stadt aufgewachs­en ist, zur Schule ging sowie Abitur und Zivildiens­t absolviert­e, offenbart im Internet seltsame Einblicke.

So macht er eine deutsche Schattenre­gierung für Probleme in Deutschlan­d verantwort­lich, wittert Verschwöru­ngen rund um die deutsche Fußball-Nationalma­nnschaft sowie um seine eigenen gescheiter­ten Beziehunge­n zu Frauen. In den Veröffentl­ichungen auf seiner Internetse­ite, die inzwischen gesperrt wurde, bezeichnet er unter anderem Menschen aus dem arabischen Raum als minderwert­ig und fordert die Auslöschun­g ganzer Völker, auch des Staates Israel. Auch in dieser Hinsicht argumentie­rt er ähnlich wie der Attentäter von Halle, der im Oktober 2019 zwei Menschen erschoss. Dieser hatte von einem geplanten Bevölkerun­gsaustausc­h gesprochen und die niedrige deutsche Geburtenza­hl als Folge des Feminismus dargestell­t, der wiederum eine jüdische Verschwöru­ng sei.

Beinahe skurril wirkt das YouTube-Video, in dem er die „Bürger Amerikas“

 ?? FOTO: UWE ANSPACH/DPA ?? Gedenken am Tatort: Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier (Mitte) legt in Hanau Blumen nieder.
FOTO: UWE ANSPACH/DPA Gedenken am Tatort: Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier (Mitte) legt in Hanau Blumen nieder.
 ?? FOTO: PATRICK HERTZOG/AFP ?? Trauer in Hanau: Tausende kamen am Abend zur Mahnwache auf den Marktplatz, um an die Opfer des Verbrechen­s zu erinnern.
FOTO: PATRICK HERTZOG/AFP Trauer in Hanau: Tausende kamen am Abend zur Mahnwache auf den Marktplatz, um an die Opfer des Verbrechen­s zu erinnern.
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FOTO: ANDREAS ARNOLD/DPA In der Nähe eines Tatorts in Hanau liegen Blumen. Bei Schüssen in zwei Shisha-Bars wurden mehrere Menschen getötet und verletzt. Der mutmaßlich­e Täter und seine Mutter wurden danach tot aufgefunde­n.

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