Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Ein heikler Auftritt
Nach den tödlichen Schüssen in Hanau erscheinen Cem Özdemir und Winfried Kretschmann vor dem Stockacher Narrengericht
- Wie feiert man Fasnet, wenn in der Nacht zuvor ein 43-Jähriger in Hanau zehn Menschen aus mutmaßlich rassistischen Motiven erschossen hat? Kann man, darf man dann nach einer Schweigeminute ausgelassen und fröhlich sein? Und wird nicht gerade von einem Politiker erwartet, an einem solchen Tag angemessene Worte zu finden, Worte des Mitgefühls für die Angehörigen, eine ernste Verurteilung der Tat? Kann man nach einem solchen Verbrechen die Narrenkappe aufsetzen und sich dem „Hohen Grobgünstigen Narrengericht zu Stocken“stellen, in einem Saal voller Menschen, die Narrenkappen auf dem Kopf tragen?
Winfried Kretschmann (Grüne) findet diese Worte. Der Ministerpräsident ist in diesem Jahr als Zeuge zum Narrengericht gekommen, er soll den Angeklagten Cem Özdemir (Grüne) verteidigen. Er tritt zunächst nicht als närrischer Zeuge der Verteidigung auf, sondern als ernster Landesvater. Er spricht den Angehörigen der Opfer sein Mitgefühl aus und erklärt, warum aus seiner Sicht die Fasnet weitergehen soll. Anders als in München, wo der Tanz der Marktweiber auf dem Viktualienmarkt abgesagt wurde und der Empfang mehrerer Abordnungen von Karnevals-, Faschings- und Fasnetsvereinen in der Staatskanzlei. Er sei vor allem aus einem Grund hergekommen, sagt Kretschmann in Stockach. „Solche Taten sind ein Anschlag auf den inneren Frieden. Und der innere Frieden ist Voraussetzung für eine freie und offene Gesellschaft.“Deswegen sei das Fest in Stockach „die richtige Antwort gegen Terror, gegen Fanatismus und gegen irregeleitete Verblendung und Hass“. Und über Özdemir, der in diesem Jahr als Angeklagter vor dem Narrengericht auftritt, sagt Kretschmann: „Ein Mann mit türkischem Namen, Sohn von Eltern, die aus Anatolien nach Bad Urach gekommen sind: Damit entspricht Cem Özdemir genau dem perversen Raster, nach dem solche Gewalttäter wie der von Hanau ihre Opfer auswählen.“
Wie mag es dem Cem Özdemir gehen, der noch am Morgen auf Twitter geschrieben hat: „Es reicht! Wir haben in Deutschland ein massives Problem mit rechtem Terror und müssen endlich anfangen, rechten Sumpf mit aller Härte des Rechtsstaates ein für alle Mal trockenzulegen, und zwar on- wie offline.“
Dieser Mann wird nun vom Stockacher Narrenbüttel in die örtliche Turnhalle gezerrt, eine Narrenkappe auf dem Kopf, und stellt sich der Anklage des „Hohen und Grobgünstigen Narrengerichts“, wartet die Reden von Ankläger und Fürsprech ab und auch den Auftritt von Winfried Kretschmann, der als Zeuge der Verteidigung
auftritt. Etwa eine Stunde und unzählige Tuschs und Witze später darf er erstmals öffentlich sprechen. Er nimmt die Narrenkappe ab und sagt: „Ich verneige mich vor den Opfern und ihren Angehörigen.“Er wünsche sich, wiederholt Özdemir außerdem seine Twitter-Nachricht vom Vormittag, das Jahr 2020 möge als das Jahr in die Geschichte eingehen, „in dem wir diesen radikalen Sumpf austrocknen“. Dafür gibt es, wie schon für die Worte Kretschmanns, viel Applaus.
Für den Rest der Veranstaltung spielt der Terrorangriff von Hanau keine Rolle mehr. Dafür nimmt Wolfgang Reuther, Ankläger des Narrengerichts und im wahren Leben CDUKommunalpolitiker, in seiner Rede ausführlich die türkischen und muslimischen Wurzeln Özdemirs aufs Korn. Er sinniert zum Beispiel darüber, man könnte, statt die Strafe wie üblich in Eimern von Wein zu bemessen, den Angeklagten doch auch in den Brunnen werfen, „aber dann wird er am Ende noch mit zweiundsiebzig Jungfrauen belohnt“. Ach nein, das gehe ja schon deswegen nicht, weil er keine zweiundsiebzig Jungfrauen im Saal sehe. Tusch.
Özdemir revanchiert sich, indem er dem Ankläger droht, sein Viertele mit dem Wasser seiner letzten rituellen Fußwaschung zu versetzen. Witzelt
aber auch: „Immer wieder wird mir ein Strick aus meiner Herkunft gedreht.“Womit er sich auf seine Kindheit in Bad Urach bezieht, wo im streng pietistischen Kindergarten keine Fasnet gefeiert werden durfte. „Das ist meine Herkunft, und ich schäme mich ihrer nicht“, ruft Özdemir. Und weiter: „Ich bin ein einfacher Gastarbeiter im Weinberg der
deutschen Politik.“Ansonsten soll nichts die leichte Atmosphäre trüben beim Narrengericht. Die Anklagepunkte der Narrenrichter, sie erstrecken sich, wie meistens in Stockach, auf drei Punkte. Aktive Sterbehilfe wird Özdemir vorgeworfen, weil er erstens die Jamaika-Sondierungen, zweitens die SPD und drittens die Fundis in der eigenen Partei gemeuchelt habe. Zweitens „gewissenloser Opportunismus“, da nach Aussage des Anklägers im Vergleich zu ihm „jede Yogalehrerin einer deutschen Volkshochschule flexibel wie eine Eisenbahnschiene“sei. Und drittens Vorteilsnahme im Amt, dafür werden eine Bonusmeilen- und eine Berateraffäre herangezogen, beide sind schon Jahre her. Außerdem habe er einmal an Folteropfer gespendet, „also quasi an sich selbst“, wie der Ankläger anmerkt. „Schließlich musste er mal mit Claudia Roth eine Doppelspitze bilden.“Den letzten Vorwurf, die Vorteilsnahme
im Amt, wird Özdemir später in seiner Verteidigungsrede besonders gekonnt parieren: „Welches Amt denn? Ich habe doch gar keins! Und was habe ich nicht alles getan, um ein Amt zu kriegen!“
Auch die anderen Anklagepunkte weist Özdemir zurück. Er habe die SPD gemeuchelt? Von wegen. Die SPD sei ja noch gar nicht tot. „Die ist wie die alte Tante bei der Familienfeier. Man weiß, lange macht sie es nicht mehr, aber es ist schön, dass sie noch mal da ist.“Und zu den geplatzten Jamaika-Sondierungen: Das sei doch Christian Lindner gewesen, nicht er. Der hatte bekanntlich den Satz gesagt, es sei besser nicht zu regieren als falsch zu regieren. Das findet Özdemir absurd: „Mit den lila Latzhosen von den Grünen kann man nicht regieren, aber mit dem streng rechts gescheitelten ‚Bernd‘ Höcke schon? Geht’s noch?“Da ist sie wieder, die ganz ernste Politik, die nicht so recht zum Narrentreiben am Schmotzigen Dunschtig passen will.
Auch Winfried Kretschmann hat noch seinen närrischen Auftritt, diesmal als Zeuge der Verteidigung für seinen Parteifreund Özdemir. Dem habe Kretschmann mal Kanzlerqualitäten nachgesagt, bemerkt der Ankläger. Wie das denn gehen soll, wenn Özdemir Bundeskanzler und gleichzeitig Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden soll? „Ihr seid nicht auf dem neuesten Stand“, entgegnet der amtierende Ministerpräsident. „Wir haben jahrzehntelang im Länderfinanzausgleich Milliarden nach Norden geschoben, jetzt beginnen die mit dem Marsch nach Süden. Mein Nachfolger wird Robert Habeck.“Und dessen Co-Vorsitzende Annalena Baerbock, die marschiere gleich weiter nach Rom und werde Päpstin. „Denn die katholische Kirche ist viel weiter, als es nach außen den Anschein hat.“
Am Ende wird Özdemir verurteilt, wie fast alle Angeklagten am Stockacher Narrengericht vor ihm. Allerdings bekommt er in zwei Punkten einen Freispruch. Schuldig befinden ihn die Narrenrichter nur der Vorteilsnahme im Amt. „Das ist zwar kein richtiges Verbrechen in der Politik“, befindet der Narrenrichter. „Nein, Ihr habt Euch erwischen lassen!“Und wenn Özdemir wirklich einmal Ministerpräsident in BadenWürttemberg werden sollte? „Dann wird er versuchen, uns zu radikalisieren!“Özdemir sei schließlich Vegetarier. „Dann heißt es: Ade, Wurschtsalat!“
Drei Eimer Wein muss Özdemir nun persönlich in Stockach abliefern. Einen Antrag der Anklage griff der Richter hingegen nicht auf. Der Ankläger hatte zwar eine Strafe von drei Eimern gefordert. Aber nicht Wein hatte der Narrenadvokat von Özdemir haben wollen, sondern türkischen Honig.
„Solche Taten sind ein Anschlag auf den inneren Frieden.“
Ministerpräsident Winfried Kretschmann
„Ich verneige mich vor den Opfern und ihren Angehörigen.“
Cem Özdemir vor seinem Auftritt beim Stockacher Narrengericht