Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Neustart unter erschwerten Bedingungen
Berlinale-Jubiläum im Schatten des Terrors – Eröffnungsfilm „My Salinger Year“enttäuscht
- Februar in Berlin. Das ist meist eine ziemlich triste Angelegenheit. Und dieses Jahr wird die Eröffnung der Internationalen Filmfestspiele von einem besonders düsteren Ereignis überschattet. Die Morde von Hanau liegen wie Blei über der Hauptstadt. Dabei hätte 2020 ein besonderes Jahr werden sollen: Zu feiern gibt es den 70. Geburtstag, und eine neue Leitung sollte nach bald zwei Jahrzehnten Dieter Kosslick diesem einzigen deutschen A-Festival frischen Schwung verleihen.
Doch der Italiener Carlo Chatrian (49) und die Niederländerin Mariette Rissenbeek (64) haben keinen leichten Start. Zuerst wurde bekannt, dass der Gründer des Festivals, Alfred Bauer, doch sehr viel enger in die NSFilmpolitik verstrickt war, als er zugegeben hat – und als man offenbar bislang wissen wollte (siehe „Schwäbische Zeitung“vom vergangenen Samstag und Montag). Das Leitungsteam reagierte schnell, setzte den nach Alfred Bauer benannten Preis aus und bestellte ein Gutachten beim Münchner Institut für Zeitgeschichte.
Dann monierte eine SPD-Kulturpolitikerin frühere frauenfeindlichen Äußerungen von Jury-Präsident Jeremy Irons. Das führte dazu, dass die Eröffnungspressekonferenz mit Stellungnahmen begann: Jeremy Irons (71) erklärte, er unterstütze voll und ganz die weltweite Bewegung für die Rechte von Frauen und sei dafür, sie gegen missbräuchliche und respektlose Belästigungen zu Hause und am Arbeitsplatz zu schützen. Irons sprach sich auch für die gleichgeschlechtliche Ehe und das Recht zu Schwangerschaftsabbrüchen aus, sollten sich Frauen dafür entscheiden. Es gebe viele Teile der Welt, wo diese Rechte noch nicht existierten. Er hoffe, dass die Jury Filme sehen könne, die diese Themen aufgreifen würden.
Auch ein anderes Jury-Mitglied meldete sich mit einer Botschaft zu Wort: Der brasilianische Regisseur Kleber Mendonca Filho, der vergangenes Jahr bei der Berlinale mit seinem Film „Bacurau“einen Publikumspreis gewonnen hatte, prangerte die Filmpolitik des rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro in seiner Heimat an. Der hatte gesagt, dass keine Filme mehr gefördert werden sollten, „die nur eine Minderheit interessieren“. Mendonca Filho klagte, dass derzeit 600 Projekte für Film und Fernsehen in seinem Land durch bürokratische Hürden absichtlich verhindert würden.
Der Eröffnungsfilm eines Festivals findet stets besondere Beachtung, was sich schon für manches Werk als schwere Bürde erwiesen hat. Leider gilt das auch für dieses Jubiläumsjahr. Sowohl thematisch wie formal ist „My Salinger Year“doch eher weniger prickelnd, wohlwollend ausgedrückt altmodisches, aber eigentlich eher altbackenes Kino.
Der kanadische Regisseur Philippe Falardeau lenkt den Blick auf einen sehr speziellen Aspekt der US-amerikanischen Literaturgeschichte. Es ist eine wahre Geschichte und basiert auf den Erinnerungen der Autorin und Journalistin Joanna Rakoff. Sie erzählt, wie sie Mitte der 90er-Jahre einen Job in einer der berühmtesten Literaturagenturen in New York bekommt. Es ist eine etwas merkwürdige Aufgabe, die der jungen Literaturstudentin da anvertraut wird: Der bedeutendste Schriftsteller, den die Agentur vertritt, ist der geheimnisumwitterte J. D. Salinger. Sein einziger Roman „The Catcher in The Rye“(„Der Fänger im Roggen“) von 1961 wurde zum Kultbuch einer ganzen Generation. Er hat Fans in aller Welt, und die junge Frau ist nur dazu abgestellt, diese Fanpost zu beantworten – mit vorgefertigten Antwortschreiben, jedes einzelne sorgfältig abgetippt mit der Schreibmaschine. Doch Joanna hält sich nicht an die Spielregeln, sondern lässt sich gefangen nehmen von den teils herzzerreißenden Briefen an den Dichter; all diejenigen, die sich in Salingers existenzialistischem Romanhelden Holden Caulfield wiedererkennen, treten in Joanas Leben.
Und sie wird von ihrer Chefin gebrieft, wie sie sich verhalten soll, wenn der Autor, der seit 30 Jahren nichts mehr veröffentlicht hat, vielleicht doch noch einmal einen Text anbieten möchte und anruft. Die Telefonate mit diesem Phantom bestärken Joanna in ihrem eigentlichen Ziel, selber zu schreiben. Und so wird „My Salinger Year“zu einer dieser Selbstfindungsgeschichten, die vor allem das angelsächsische Kino so sehr liebt – ein Schuss Melancholie (meist unterlegt mit Eric Saties zauberhaftem Stück „Gymnopedie“) und am Ende ein Aufbruch zu neuen Ufern mit viel Optimismus.
Hauptdarstellerin ist die junge Margaret Qualley. Sie war zuletzt in Tarantinos „Once Upon a Time in Hollywood“als Hippiemädchen aus der Manson Family zu sehen. Aber hier muss sie vor allem das staunende Kind geben, das mit großen Augen durch das herbstliche New York läuft. Ihr gegenüber steht Sigourney Weaver als ebenso kluge wie kühle Agenturchefin Margaret. Kettenrauchend und mit exzentrischen Outfits gibt sie eine New Yorker Intellektuelle aus dem Bilderbuch. Alles wenig überraschend. Aber der Film läuft nicht im Wettbewerb , und wir freuen uns auf die über 600 neuen Filme mit einer ungewohnten Ästhetik, die die Festivalchefs versprochen haben.