Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
In Locarno ist die Kameliendame ein Herr
Das Tessin lockt im Frühling mit einer außergewöhnlichen Blütenpracht – und einer zweitägigen Teeernte
Der Hüter der Kamelien heißt Daniele Marcacci – und sieht ein bisschen aus wie Catweazle. Wie der schrullige Hexenmeister aus der britischen Kultserie der 1970er-Jahre trägt der Chefgärtner von Locarno Ziegenbart und etwas wirres graues Haupthaar. Und zaubern kann Marcacci auch, genau wie Catweazle. Denn was der Schweizer mit dem grünen Daumen Jahr für Jahr seinen Blumen, den Kamelien, an Blütenpracht entlockt, das sucht seinesgleichen.
Pünktlich zu „Camelie Locarno“, dem Kamelienfest direkt am Ufer des Lago Maggiore, stehen viele der rund 1200 Pflanzen in voller Blüte – in allen Formen, Farben und Größen, die man sich nur vorstellen kann; davon 950 Varietäten und 70, die gar erst noch identifiziert werden müssen. Alljährlich im März begrüßt Locarno mit der fünftägigen Veranstaltung den Frühling, der hier im milden Klima des Tessins rund drei Wochen früher Einzug hält als auf der Alpennordseite. „Camelie Locarno“gilt als eines der wichtigsten Events dieses Genres, gleich hinter einem ähnlichen Fest in Japan, dem Ursprungsland dieser zauberhaften Pflanze. In Asien steht die Kamelie, die zu den Teestrauchgewächsen gehört, als Symbol für die Langlebigkeit, eine glückliche Ehe und Zufriedenheit.
Der 62 Jahre alte Marcacci ist zugleich auch der Präsident der Schweizerischen Kameliengesellschaft, die 1999 gegründet worden ist. Aus rund 40 Ländern von China bis Amerika kamen die Fachleute der „International Camellia Society“, als in Locarno im Jahr 2005 der Weltkongress über die Bühne ging. Camellia japonica, so der lateinische Name, ist hier nicht nur eine schöne Pflanze – sie ist eine ernste Wissenschaft. In diesem Jahr richtet die Gesellschaft das Fest zum 23. Mal aus in der Gartenanlage, die extra angelegt worden ist, „um der Kamelie eine Heimat zu geben“, wie Manfredo Walder sagt, der ebenfalls zu den Mitbegründern der Gesellschaft gehört. Vom 25. bis 29. März werden wieder Raritäten und Sonderzuchten gezeigt, die zum Teil auch käuflich erworben werden können. Man kann wunderbar zwischen den Beeten flanieren, an den Teichen mit Wasserfall und Wasserspielen lustwandeln, sich zum Apéro an der Bar treffen oder einen Kaffee oder Tee auf den Stufen des Amphitheaters zu sich nehmen – mit Blick auf den Lago Maggiore und die nahe gelegenen Alpen. Und natürlich werden die Spezialisten wieder tagelang über ihre Lieblinge fachsimpeln. „Der Kamelienliebhaber ist gemeinhin ein sehr sympathischer Mensch“, behauptet Walder.
Was wohl nur die wenigsten wissen: Auch die Teepflanze gehört zur Gattung der Kamelien innerhalb der Familie der Teestrauchgewächse. Wer sich also für Tee interessiert, der sollte unbedingt einen Abstecher auf den berühmten Monte Verità, den Berg der Wahrheit, hoch über Ascona machen. Ihn erreicht man zu Fuß in etwa 20 Minuten, mit dem Kleinbus „Buxi“oder mit dem Taxi. Auf diesem Hügel, wo Anfang des 20. Jahrhunderts Revolutionäre, Vegetarier, Künstler und Philosophen neue Lebensformen erprobten und ihn damit zum Mythos machten, gibt es die einzige Teeplantage der Schweiz. Möglich machen das botanische Wunder zum einen das einzigartige Mikroklima des Sees und zum anderen der Pioniergeist von Peter Oppliger,
einem ehemaligen Apotheker und weit gereisten Spezialisten für Pflanzenheilkunde. 2005 baute er erstmals die Camellia sinsensis auf dem Monte Verità an.
Heute umfasst die Teeplantage rund 1400 selbst gezogene Pflanzen, einen Zen-Garten mit Pavillon, einen kleinen Laden und das Casa del Té, das Teehaus, in dem regelmäßig Degustationen sowie japanische Teezeremonien durchgeführt werden. Im
Jahr 2017 haben Katrin und Gerhard Lange das Casa del Té übernommen; das schweizer-deutsche Paar bringt seine jahrzehntelange Erfahrung aus seinem Teeladen in Bern hier ein. Die Geschäfte auf dem Monte Verità aber führen Corinne und Tobias Denzler, die viele Jahre in der Entwicklungsarbeit in Bhutan und Laos sowie auf den Philippinen tätig waren und nun in der Schweiz eine neue Heimat gefunden haben. „Gerade mal zwei Kilogramm beträgt die jährliche erste Ernte, der first flush, bei dem nur die oberen zwei Blätter geerntet werden“, erzählt Corinne. 20 Gramm des wertvollen Grüntees kosten 37 Franken. Die zweitägige Ernte im Mai oder Juni wird mit einem großen Fest gefeiert, dafür reisen extra zwei Experten aus Japan an.
Betritt man die Schwelle zum geschwungenen Zen-Garten, der eingebettet ist in die mediterrane Vegetation des Parks, dann fühlt man sich mit einem Schlag nach Asien versetzt. Es mag wie ein Klischee klingen, aber tatsächlich übt der Garten sehr schnell eine beruhigende Wirkung auf Herz und Gemüt aus. Hier ist es grün, friedlich, still und warm – manchmal braucht es wenig. Der
Trockengarten bildet nach alter Tradition mit Kies, Steinen und Pflanzen eine Landschaft ab. Regelmäßig wird der Kies geharkt, eine meditative Arbeit, die Ordnung in den Garten und in die eigene Gedankenwelt bringt.
Zweimal im Monat von April bis Dezember findet im Chashitsu, dem japanischen Teeraum, mit einer ausgebildeten Meisterin die erwähnte ritualisierte Teezeremonie statt. Sie gilt wie Kalligrafie, Architektur und Bogenschießen in Japan als vollendete Kunst. Nach buddhistischen Regeln sollen mit den perfekt aufeinander abgestimmten Handgriffen ideale Momente des Seins geschaffen werden. Deshalb zählt die japanische Teezeremonie zu den elaboriertesten Formen, einen Gast willkommen zu heißen. Wem es also zu weit ist nach Japan: Auch im vergleichsweise nahen Tessin gibt es Kamelienblüten und Tee wie in Asien.