Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Premiere ohne Publikum
Christoph Waltz inszeniert „Fidelio“in Wien vor leerem Haus
- Not macht erfinderisch, auch in der Kultur. Fernseh- und Rundfunkanstalten senden Mitschnitte von großen Produktionen, und am Sonntagabend schlossen sich die Menschen in Flashmobs zur „Ode an die Freude“am offenen Fenster zusammen. Im Theater an der Wien stand die Premiere von Beethovens „Fidelio“in der Regie von Christoph Waltz und unter der musikalischen Leitung von Manfred Honeck kurz bevor. Es sollte ein Höhepunkt im BeethovenFestjahr werden. Doch das Corona-Virus stoppte alle Aktivitäten. Ein Fernsehteam hatte die Premiere aufzeichnen und später senden wollen. Stattdessen wurde das Theater an der Wien nun gänzlich zum Filmstudio, die letzten Proben und die „Premiere ohne Publikum“wurden mitgeschnitten und zu einer Opern-Fernsehproduktion umgewandelt. Über den Streamingdienst myfidelio.at kann man die Produktion nach Anmeldung jederzeit ansehen, denn am Freitagabend war die Nachfrage so groß, dass der Server überlastet war.
Statt Originalschauplatz – Beethoven selbst hatte in diesem kleineren der Wiener Opernhäuser seinen „Fidelio“und andere Werke zur Uraufführung gebracht – also der heimische Schreibtisch. Statt großer Bühne ein Laptopbildschirm mit kleinen Lautsprechern: Auch Kulturjournalistinnen müssen in diesen Zeiten improvisieren.
Vom Zuschauerraum sieht man nichts, zur Ouvertüre und zum Vorspiel des zweiten Akts taucht die Kamera in den Orchestergraben zu Manfred Honeck mit seinem bekannt leidenschaftlichen Dirigat und zu den Wiener Symphonikern. Den Sicherheitsabstand konnte man im Orchestergraben natürlich nicht einhalten, auch beim Schlussbild mit Chor und Orchester auf der Bühne herrschte drangvolle Enge. Ob Beethovens kraftvolle Musik und die Energie aller Beteiligten alle Viren ferngehalten haben? Hoffentlich.
Christoph Waltz ist als Hollywoodstar weltberühmt. Aber er hat eine ganz solide Theaterausbildung am Max-Reinhardt-Seminar absolviert. Der „Fidelio“ist seine dritte Operninszenierung nach „Rosenkavalier“und „Falstaff“in Brüssel.
Dieser Wiener „Fidelio“ist einerseits opulent in der Doppelspirale einer kühnen Treppenkonstruktion, andererseits klar und konzentriert in der Personenführung. Das Bühnenbild des in Berlin ansässigen deutsch-amerikanischen Architektenduos Barkow Leibinger füllt den Bühnenraum und sprengt zugleich den Bildschirm. Die Dimensionen der Treppe wirken riesig, trotzdem entstehen durch die Lichtstimmungen von Henry Braham intime Räume. Die Spirale führt nach unten ins Verlies ebenso wie nach oben ins Licht, zur Hoffnung, die Beethovens Musik so oft besingt: Bei aller Dominanz erweist sich diese Einheitsbühne als erstaunlich wandelbar. Und Christoph Waltz’ feinzeichnende Regie mit den intensiven Blickwechseln, der Körpersprache, der Geometrie von Macht und Unterwerfung kommt in der FernsehNahaufnahme besser zur Geltung als im großen Zuschauerraum. Einzig in der Chorführung arbeitet er hier recht konventionell. Die wunderbar kultiviert singenden Damen und Herren des Arnold-SchönbergChors formieren sich malerisch auf den Stufen. Harmonisch in Beige-, Blau- und Grautönen sind die Kostüme von Judith Holste.
Natürlich hat auch Manfred Honeck mit einem rundum beeindruckenden Sängerensemble und den Wiener Symphonikern höchst detailliert gearbeitet. Zu hören ist die Oper in der zweiten Fassung von 1806, die im Vergleich zu der üblichen Fassung von 1814 spannende Unterschiede in der Stimmführung oder zusätzliche Ensemble- und Chorszenen bringt.
Nicole Chevalier ist eine emotional aufwühlende Leonore, die auch in Männerkleidung überzeugt und die stimmlichen Herausforderungen meistert. Eric Cutler gestaltet die Partie des Florestan mit weichen, warmen Farben und intensiven Höhenflügen. Christoph Fischesser ist ein sympathisch jugendlicher Kerkermeister Rocco, in den Szenen mit Pizarro meißeln der ungarische Bassist Gábor Bretz (er war im vergangenen Bregenzer Festspielsommer der Don Quichotte in Massenets Oper) und Manfred Honeck den finster gefährlichen Charakter des Gouverneurs heraus. Leuchtpunkte und frische Koloraturen präsentiert Melissa Petit als Marzelline, temperamentvoll eifersüchtig umschwärmt von Benjamin Hulett als Jaquino.
Oper am Bildschirm funktioniert auch und erreicht viele Menschen – das gemeinsame Theatererlebnis ist freilich nicht zu toppen.
Über den Streamingdienst myfidelio.at kann man die Produktion nach Anmeldung jederzeit ansehen. Und am 13.4., 20.15 Uhr, wird sie auf Arte gezeigt.