Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Bangen um Boris Johnson
Nach der Verlegung des Premierministers auf die Intensivstation streiten die konservativen Rivalen
- Wegen der krankheitsbedingten Abwesenheit des mit SarsCoV-2 infizierten Premierministers Boris Johnson haben sich am Dienstag in London die Fragen nach der Funktionsfähigkeit der konservativen Regierung gehäuft. Der Zustand des 55-Jährigen hatte sich am Montag, 24 Stunden nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus, so verschlechtert, dass er auf die Intensivstation der Londoner St.-ThomasKlinik verlegt werden musste. Der Patient erhalte Sauerstoff, müsse aber nicht beatmet werden und leide auch nicht an einer Lungenentzündung, teilte Kabinettsminister Michael Gove in Medieninterviews mit. Außenminister Dominic Raab hat als „Erster Minister“vorläufig die Regierungsgeschäfte übernommen.
Den Reaktionen auf sozialen Netzwerken und in populären Radiosendungen nach zu schließen traf die schockierende Entwicklung die britische Öffentlichkeit weitgehend unvorbereitet. Das dürfte mit der extrem defensiven und zeitweilig am Rande der Wahrheit entlang schrammenden Informationspolitik der Regierung zu tun haben. Seit seinem positiven Test auf das Coronavirus und der anschließenden Selbstisolierung in der Downing Street vor knapp zwei Wochen hatte der Regierungschef seine gesundheitliche Situation heruntergespielt, stets nur von „hartnäckigem Husten und erhöhter Temperatur“gesprochen. „Ich bleibe im Dienst und arbeite von daheim aus“, beteuerte Johnson in kurzen Videobotschaften, die von seinem Team verbreitet wurden. Am Donnerstagabend war der bereits erkennbar mitgenommene Patient zuletzt für die Öffentlichkeit zu sehen, als er zum wöchentlichen Beifall für die Bediensteten des Nationalen Gesundheitssystems NHS vor die Tür der Downing Street trat.
Noch am Montagnachmittag setzte die Downing Street ein fröhliches Tweet ab. Er sei „guter Dinge“und beschäftige sich im Krankenhausbett mit Regierungspapieren, teilte Johnson mit. Kurze Zeit später erfolgte die Verlegung auf die Intensivstation. Die St. Thomas-Klinik ist nur wenige Hundert Meter von der Downing Street entfernt; sie liegt direkt gegenüber dem Palast von Westminster, in dem das britische Parlament tagt. Das Ärzteteam kümmert sich schon seit Februar als eines der ersten Krankenhäuser auf der Insel um Covid-19-Patienten, nicht zuletzt, weil dort Spezialisten für schwerwiegende Lungenerkrankungen versammelt sind.
Die ungeschriebene britische Verfassung ist gänzlich auf das Amt des Premierministers zugeschnitten, handelt es sich doch beim Vereinigten Königreich dem früheren Lordkanzler Lord Hailsham zufolge um „eine gewählte Diktatur“. Nominell wird der Regierungschef von Queen Elizabeth II. ernannt, in Wirklichkeit braucht er oder sie das Vertrauen der
Mehrheitsfraktion im Unterhaus. Minister werden ernannt und gefeuert, wie es dem „Ersten Anführer des Schatzkanzleramtes“, so der offizielle Titel, gefällt.
Wie ernst konservative Kreise die Lage einschätzten, zeigte sich am Dienstag auf der BBC. Im Mittagsprogramm „World at One“ließ sich Ex-Premier David Cameron als „Freund” des Nachfolgers ankündigen, durch dessen Brexit-Kampagne er 2016 sein Amt verloren hatte. In Wirklichkeit verbindet die beiden
Absolventen des Elite-Internats Eton und der Universität Oxford eine jahrzehntelange Rivalität. Das Land brauche sich keine Sorgen zu machen, erläuterte Cameron: „Unser Regierungsapparat ist auf solche Situationen eingerichtet.“Die unparteiische Beamtenschaft werde alle laufenden Geschäfte vorbereiten; falls Johnson Entscheidungen nicht selbst treffen könne, müsse dies eben Raab übernehmen.
An dessen Machtfülle bestehen aber Zweifel, die nicht zuletzt durch Kabinettsrivalen gesät werden. Minister Gove spielte Raabs Bedeutung herunter und hob die „kollektive Entscheidungsbefähigung“des Kabinetts hervor. Nominell bleibt das Amtssiegel und damit auch die Verfügungsgewalt über Großbritanniens Atomwaffen bis zur Ernennung eines neuen Amtsinhabers durch Elizabeth II. in Johnsons Hand. Gove musste sich am Dienstag selbst isolieren, weil ein Familienmitglied an Corona-Symptomen leidet.
Ärzte wiesen darauf hin, dass der Premier selbst bei einer baldigen Genesung eine längere Erholungsphase brauchen werde. „Es besteht kein Zweifel daran, dass Boris Johnson sehr krank ist“, vertraute Professor Derek Hill vom Londoner University College der Times an. Immerhin leidet der Politiker an keinen Vorerkrankungen, wenn er auch seit Jahren mit Übergewicht kämpft. Weil ihm in jüngster Zeit die Knie zu schaffen machten, hat er Jogging zugunsten von Yoga und Pilates aufgegeben. Dass Johnson ein Gläschen Rotwein nicht fremd ist, erfuhr die Öffentlichkeit im vergangenen Sommer durch einen öffentlich gewordenen lauten Streit mit seiner Freundin Carrie Symonds. Die 32-Jährige erwartet im Juni das erste gemeinsame Kind. Da sie selbst mit coronaähnlichen Symptomen das Bett hüten musste, dürfte ihr der Besuch am Krankenbett ihres Verlobten verwehrt bleiben.