Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
800 Quadratmeter Diskussionsfläche
Große Geschäfte dürfen am Montag noch nicht öffnen – Viele Einzelhändler können das nicht nachvollziehen
- Friedrich Kolesch ist fassungslos. Die Hoffnung, er könnte sein Modehaus Kolesch im Zentrum der oberschwäbischen Stadt Biberach von Montag an wieder öffnen, hat sich zerschlagen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder haben sich am Mittwoch darauf verständigt, Geschäfte nur schrittweise zu öffnen. Zunächst sollen kleine und mittlere Geschäfte bis zu einer Größe von 800 Quadratmetern wieder aufsperren dürfen, wenn sie bestimmte Hygieneund Abstandsregeln einhalten. Das Modehaus Kolesch – ein 200 Jahre alter Familienbetrieb – ist aber 3000 Quadratmeter groß und muss deshalb geschlossen bleiben.
„Das ist Diskriminierung“, sagt Kolesch. „Je größer meine Fläche ist, desto einfacher ist es doch, dass die Kunden möglichst viel Abstand einhalten können.“Auch wenn er es ihnen absolut gönne: Wieso dürften andere Geschäfte mit gleichem Sortiment aufmachen und er nicht? Die 800-Quadratmeter-Regel entbehre jeder Logik, sagt Kolesch, sie sei eine enorme Wettbewerbsverzerrung.
Ziel der nur schrittweisen Öffnung der Läden sei es in und vor den Läden genügend Abstand zwischen den Menschen zu haben, um neue Infektionsketten zu verhindern, sagte Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher im ARD-Morgenmagazin am Donnerstag. Der SPD-Politiker hatte die 800-Quadratmeter-Regel mit ausgehandelt. „Wir müssen sicherstellen, dass die Innenstadtbereiche nicht wieder zu eng bevölkert werden“, erläuterte Tschentscher.
Doch an der Frage, warum genau bei 800 Quadratmetern die Grenze gezogen wurde, schieden sich dann die die Geister. Christian Rusche vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln beispielsweise findet die Beschränkung auf 800 Quadratmeter grundsätzlich nachvollziehbar. „Dies entspricht der Größe der meisten Discounter“, sagte er dem Nachrichtenmagazin „Stern“. Die
Zahl sei fix und könne direkt dem Mietvertrag entnommen werden, sie sei einfach zu kommunizieren. „Das ist keine aus der Luft gegriffene Zahl“, betonte auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Donnerstagmorgen. Sie ergebe sich aus den entsprechenden Bauverordnungen, alles darüber seien schon qua Genehmigung große Einkaufszentren. Und die Politik will eben vermeiden, dass sich auf einmal wieder viele Menschen ansammeln – wie es in Einkaufzentren passieren kann.
Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) ist in Bezug auf die Regelung allerdings kritischer und auch selbstkritisch, da sich BadenWürttemberg in den Verhandlungen mit den anderen Ländern offenbar nicht behaupten konnte: „Wir hätten uns hier eine andere Lösung gewünscht mit ganz klar nachvollziehbaren Kritierien, tragen aber selbstverständlich den Beschluss mit“, sagt sie. Die Öffnungsschritte seien zwar klein, aber erste wichtige Schritte in die richtige Richtung.
Hermann Hutter, Präsident des Handelsverbands Baden-Württemberg, dagegen kann nur mit dem Kopf schütteln. Generell sei es natürlich gut, dass viele Geschäfte wieder öffnen können, „weil viele Unternehmen am Rande der Existenz sind“, sagt er im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“, aber „die 800Quadratmeter-Regel ist unserer Ansicht nach willkürlich“. In großen Geschäften seien die Hygienemaßnahmen leichter einzuhalten, als in kleineren, deswegen mache die Regel keinen Sinn. Der Handelsverband Baden-Württemberg fordert deshalb, dass alle Geschäfte ohne Ausnahmen unter Einhaltung der Hygieneregeln wieder öffnen dürfen. Auch Martin Buck, Präsident der Industrieund Handelskammer BodenseeOberschwaben (IHK), sagt: „Geschäfte sollten schnellstmöglich unabhängig von der Verkaufsfläche die Chance bekommen, zu beweisen, dass sie Abstandsregeln und Hygienevorschriften erfüllen können. Das wäre ein fairer Wiedereinstieg, der sich an dem Gesundheitsschutz ausrichtet“, erklärt Buck.
Der Handelsverband schätzt, dass in den vergangenen vier Wochen im Nicht-Lebensmittelhandel deutschlandweit ein Schaden von rund 30 Milliarden Euro entstanden ist. Und für die Betriebe, die nicht öffnen dürfen, gehe der Kampf um die Umsätze weiter wie bisher. „Uns tut jeder Tag weh, den wir nicht geöffnet haben“, sagt Friedrich Kolesch vom Biberacher Modehaus. Die Ware für Frühjahr und Sommer sei schon lange eingekauft und die müsse er den Lieferanten – daran sei er vertraglich gebunden – auch abnehmen. Aber wenn er nicht öffnen dürfe, könne er auch nichts verkaufen.
Und zusätzlich geht Kolesch nicht davon aus, dass ihm die Kunden den Laden einrennen, wenn er irgendwann wieder öffnen darf. „Unser kleinstes Problem wird eine überbordende Kundenfrequenz sein. Wir werden froh sein, wenn wir 50 Prozent des Normalumsatzes machen“, sagt Kolesch. Denn er glaube nicht, dass die Menschen plötzlich wieder unbeschwert bummeln gehen. Deswegen könne er auch die Befürchtung der Politik nicht verstehen, dass bei einer Öffnung aller Geschäfte die Menschenansammlungen zu groß werden könnten und man deshalb besser schrittweise vorgehen sollte. Bei solchen Vorstellungen habe man wohl eher an die Fußgängermeilen in den Großstädten gedacht, nicht aber an den ländlichen Raum, indem man sowieso um jeden Kunden ringe.
Allerdings: Es deutet sich bei der Größenregel bereits eine variable Handhabung an. Nordrhein-Westfalen
beispielsweise will neben der bereits beschlossenen Ausnahme von der 800-Quadratmeter-Regel für Autohäuser, Fahrradgeschäfte und Buchläden, auch Möbelhäuser zur Ausnahme machen. Bayern allerdings hat bereits entschieden die 800 Quadratmeter-Regelung, so wie sie ist, bestehen zu lassen und wird die Geschäfte erst am 27. April wieder öffnen. In Baden-Württemberg will die Regierung am Freitagabend Details bekannt geben. Auch sollen die Inhaber von Geschäften im Land, die öffnen dürfen, bis zum Samstag klare Vorgaben bekommen, unter welchen Bedingungen sie aufsperren können. „Dazu wollen wir eine Checkliste entwickeln“, sagte Wirtschaftsministerin Hoffmeister-Kraut.
Vielen Geschäftsinhabern war am Donnerstag noch nicht klar, welche Hygienemaßnahmen sie in ihren Geschäften von Montag an einhalten müssen. „Ich habe einen sehr kleinen Laden. Die Durchgangsbreite liegt bei etwa 1,5 Metern“, sagt beispielsweise Kornelia Edelmann, Inhaberin eines Hutmoden-Geschäfts in Ravensburg, der „Schwäbischen Zeitung“. Sie wisse nicht, wie genau sie da die Abstandsregeln einhalten solle. „Wie soll ich außerdem beispielsweise an Desinfektiosnmittel kommen?“, fragt sie sich. Viele solcher Fragen hätten die IHK erreicht, bestätigt eine Sprecherin. Die Geschäftsinhaber würden fragen, was unter den Hygienemaßnahmen genau zu verstehen sei, ob sie Masken tragen müssten, ob sie einen speziellen Spritzschutz an der Kasse brauchen, ob die Toiletten geöffnet sein dürfen. „Alle warten auf Konkretisierung“, erklärte die Sprecherin.
Friedrich Kolesch interessiert zudem eine weitere Frage. Nämlich, ob Baden-Württemberg die Möglichkeit zulässt, dass er Teile in seinem Kaufhaus so absperrt, dass nur noch 800 Quadratmeter übrig bleiben, auf denen er dann auch verkaufen kann. „Das wäre zwar nur eine Krücke, aber wenigstens etwas“, sagt Kolesch. Der Unternehmner sucht eine Lösung. Es ist dringend.