Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Eindrücke aus Tadschikistan
Nuriya Boynozarova ist nach Mengen gekommen und will Altenpflegerin werden
- Als Matthias Effinger Ende Februar zum Vortrag und Spendenevent für eine Region im Pamirgebirge eingeladen hatte, wurde er sehr überrascht: Er bekam den Anruf einer jungen Frau, die ihm sagte, dass sie Pamiri sei und in Mengen lebe. Sie hatte zufällig ein Plakat gesehen, das den Vortrag ankündigte und wollte gerne dazukommen. Sie habe vor Heimweh den ganzen Vortrag lang geweint. „Die Bilder von daheim und die Musik dazu, da sind so viele Gefühle hochgekommen“, sagt Nuriya Boynozarova. Sie ist 23 Jahre alt, seit drei Jahren in Deutschland, hat ein freiwilliges soziales Jahr im Zieglerschen Seniorenzentrum gemacht und jetzt die Ausbildung zur Altenpflegerin begonnen.
Sie kommt von sehr weit her: aus dem Dorf Zong, das in einem großen Flusstal im Wakhan Korridor liegt, im südlichen Pamir-Gebirge, das an den Hindukusch grenzt, aus dem Land Tadschikistan. Effinger beschreibt das Land. Er kennt es gut, er kennt sogar das kleine Dorf Zong: „Es liegt in einem Tal auf fast 3000 m Höhe, rechts und links gehen Berge auf über 6000 Meter hoch. Dieser Landstrich ist komplett abgelegen. Es ist eine der ärmsten Regionen der Welt“, sagt er. Das Überleben sei täglich ein harter Kampf. „Es fehlt an jeglicher Infrastruktur, die für uns selbstverständlich ist: Wasser, Strom, sanitäre Anlagen, medizinische Versorgung, Schulen, öffentliche Verkehrsmittel“, so Effinger.
Die Abgeschiedenheit von der Zivilisation sei so groß, dass sich Sprachen entwickelt haben, die keine Schrift kennen. Tadschikisch, Russisch und begrenzt Englisch seien die verbindenden Sprachen. Teilweise seien die Wege so weit, dass man mehrere Tage bis zum nächsten Dorf gehen muss. Die Armut sei so groß, dass die Kinder ins Ausland auswandern müssten, um Geld zu verdienen und es nach Hause zu schicken, um ein Überleben der anderen Familienmitglieder zu sichern. „Meist arbeiten sie in Russland unter unwürdigen Bedingungen und werden ausgebeutet“, sagt Effinger. Doch sei der Pamir landschaftlich atemberaubend schön und die Gastfreundschaft überwältigend.
Wenn Nuriya Boynozarova von ihrer Heimat spricht, ahnt man, wie anders und fremd hier alles für sie sein muss. Der Vater starb, als sie
Kind war. Die Mutter und die Großeltern zogen beide Mädchen groß. Sie stand um 5 Uhr morgens auf, um Sommer wie Winter zu Fuß den schlechten weiten Weg zur Schule zu gehen. Vor und nach der Schule half sie, die Tiere und den Haushalt zu versorgen. Die Armut war unglaublich. Unterstützung kam von Onkels, die in Russland arbeiten. Sie machte ein gutes Abitur. Sie bekam ein Stipendium, um in der Hauptstadt Duschanbe Landwirtschaft zu studieren. Sie lernte einen Deutschlehrer kennen, der ihr half, sich in Deutschland per Skype als Au-pair-Mädchen zu bewerben. Die Mutter arbeitete hart, um die Reise ihrer Tochter zu bezahlen. So kam Nuriya Boynozarova nach Frankfurt in eine deutschrussische Familie.
Sie musste neben der Sprache sehr viel lernen. Sie lernte, sich an den Tisch zu setzen, mit Messer und Gabel umzugehen. Sie lernte, wie
Müll entsorgt wird. Sie lernte was Pünktlichkeit ist und wie Stress in den Tag kommt. Sie lernte das Leben in der abgeschotteten Kleinfamilie kennen. „Hier ist alles anders“, stellt sie fest. Daheim leben die Menschen in Großfamilien eng zusammen. Wenn etwas fehlt, leiht man es einfach beim Nachbar aus. Solidarität und Gemeinschaft sind die Grundlagen des Zusammenlebens und Überlebens. Kinder folgen den Eltern, da gibt es kein Auflehnen oder Individualismus. Neulich war sie mit der Berufsschulklasse der Helene-Weber-Schule im Bauern-Museum: „Die Führerin hat uns gezeigt, wie man in Oberschwaben vor 70 oder 100 Jahren gelebt hat. Bei uns ist alles heute noch genauso“, stellt sie fest.
Nach dem Jahr in Frankfurt hat sie sich über die Diakonie für eine FSJStelle beworben und kam nach Mengen in die Zieglerschen. Jetzt ist sie Auszubildende. Es gefalle ihr, wie die
Arbeit organisiert ist, wie der Umgang zwischen Vorgesetzten und Auszubildenden gestaltet wird. „Der Ton ist so freundlich, als ob es keine Hierarchie gebe. Man kann frei seine Meinung sagen“, staunt sie. Es mache ihr Freude, mit den älteren Leuten umzugehen und sie zu versorgen. „Da denke ich weniger an daheim“, sagt sie. Sie sei sehr dankbar für die Unterstützung. die sie bei den Zieglerschen von allen bekommt.
Obwohl sie hier ein gutes Leben habe, hat sie Heimweh nach der Familie, dem Dorf, der kargen Landschaft, dem einfachen Leben. Seit drei oder vier Monaten hat die Mutter ein Handy. Wenn das Internet funktioniert, dann telefonieren Mutter und Tochter und können einander sehen. „Ich kann meiner Mutter aber meine Wohnung und die Möbel nicht zeigen. Das tut mir so weh, wie gut mein Leben ist und schwer das ihre“, sagt Nuriya Boynozarova.