Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
„Ungerechtigkeit wird jeden Tag größer“
Mengens Bürgermeister diskutiert online über den digitalen Unterricht in Corona-Zeiten
- Die weiterführenden Schulen in Mengen haben die Zeit, in der kein gemeinsamer Unterricht in den Einrichtungen stattfinden konnte, größtenteils ziemlich gut gemeistert. Zu dem Ergebnis sind die Teilnehmer der Runde „Mengen diskutiert“gekommen, die am Montagabend wieder live auf Youtube gestreamt werden konnte. Auch wenn es auf allen Seiten Bedenken gibt, wie künftig Abstands- und Hygieneregeln eingehalten werden sollen, wurde auch deutlich, dass sich Lehrer, Eltern und Schüler auf die schrittweise Rückkehr zum Unterricht freuen,
Aus der Sicht von Joachim Wolf, Leiter der Gemeinschaftsschule Sonnenlugerschule und geschäftsführender Schulleiter der Mengener Schulen, ist eine Wiederaufnahme des „normalen“Unterrichts vor allem für die Schüler wichtig, bei denen daheim die optimale Ausstattung für ein digitales Lernen fehlt und bei denen Eltern nicht permanent als Motivatoren, Strukturgeber und Aushilfslehrer präsent sind. „In dieser Situation öffnet sich die Schere im Bildungswesen noch weiter und die Ungerechtigkeit wird mit jedem Tag größer“, sagte er und berichtete von Familien, in denen der im Homeoffice arbeitende Vater und die drei schulpflichtigen Kinder den einzigen Computer im Haushalt alle zur selben Zeit benutzen wollen. Internetverbindungen seien schlecht, es gebe keinen Drucker und hinzu kämen angespannte Situationen unter den Familienmitgliedern. „Diese Schüler dürfen jetzt nicht auf der Strecke bleiben“, sagte Wolf.
Die Corona-Krise macht die Lehrer erfinderisch. Per Post oder Nachbarschaftskurier, über Firmen und das Kollegium würden Aufgabenpakete zu denjenigen gebracht, die digital eher abgehängt seien. „Bekommt ein Lehrer drei Tage lang keine Rückmeldung von einem Schüler, greift er zum Telefon“, sagte Anna Miehe, die als Lehrerin am Mengener Gymnasium arbeitet und als Netzwerkberaterin für Fragen der Digitalisierung zuständig ist. Sie hat als „Versuchskaninchen“mit ihren Klassen Audiound Videochats getestet und so Kollegen Tipps geben können.
„Unsere Abiturienten waren am Anfang sehr verunsichert, weil sie nicht wussten, ob die Prüfungen überhaupt stattfinden würden“, erzählte sie. „Jetzt herrscht Klarheit und sie sind froh, dass es noch eine Zeit in der Schule gibt, in der Fragen gemeinsam geklärt werden können.“Sie persönlich würde die Schule, den Unterricht von Angesicht zu Angesicht und die Kontakte zu anderen Lehrern sehr vermissen. „Ich glaube wir alle lernen gerade, den Schulalltag und die sozialen Kontakte richtig wertzuschätzen“, überlegte sie. „Vielleicht hält das ja auch künftig ein wenig an, auch wenn es mal Streit oder schlechte Noten gibt.“
Auch wenn in seiner Familie alles gut funktioniert habe, konnte Wolfgang Benkelmann, Elternbeiratsvorsitzender der Realschule Mengen, von Eltern berichten, für die die Organisation von Betreuung der Kinder, Aufsicht der schulischen Aufgaben und eigener Arbeit eine große Herausforderung gewesen ist. „Das geht jetzt noch weiter, wenn beispielsweise der große Bruder schon wieder zur Schule gehen kann, das
Geschwisterkind aber daheim bleiben soll“, sagte er. Auch fasste Benkelmann die Bedenken vieler Eltern hinsichtlich der Einhaltung von Abstandsund Hygieneregeln in Worte. „Wie soll das im Bus oder in der Bahn, auf dem Weg zur Schule und in den Pausen funktionieren?“, fragte er. Auch aus Zuschauerreihen wurde nach Schichtbetrieb und möglicher Maskenpflicht gefragt.
Hier musste Bürgermeister Stefan Bubeck, der die Runde wieder moderierte, noch um Geduld bitten. „Das sind genau die Punkte, mit denen wir uns in dieser Woche als Schulträger gemeinsam mit den Schulleitungen beschäftigen müssen“, sagte er. Es gelte, wirksame Konzepte zu entwickeln, damit der Schulbetrieb ansteckungsund angstfrei ablaufen könne. Er selbst könne sich eine Maskenpflicht auf dem Schulweg und während der Pausen gut vorstellen. Leonie Heilig, die in die zehnte Klasse
des Gymnasiums geht, berichtete aus ihrem Lernalltag ohne Schule. Ihrer Meinung nach ließen sich Internetrecherchen oder das Schreiben von Aufsätzen daheim problemlos machen. Schwieriger sei es bei Fremdsprachen oder Fächern wie Gesellschaftskunde, in denen viel diskutiert würde. Struktur und Selbstorganisation sei für das Lernen daheim wichtig. „Die Krise hat mich gelehrt, die schönen Seiten der sozialen Kontakte und des öffentlichen Lebens mehr zu schätzen“, war ihr Fazit, das auch die anderen Diskussionsteilnehmer teilten. „Wir haben uns in der Familie bewusster zusammengesetzt und Gespräche geführt“, sagte Wolfgang Benkelmann. „Das geht im Alltag sonst schnell unter.“Einig waren sich die Anwesenden auch, dass sie wieder einen Blick für die Natur bekommen hätten und die Verantwortung des Menschen für sein Umfeld.