Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Der Lärm der Lockdown-Gegner
Tausende protestieren gegen Maßnahmen – darunter Rechte und Verschwörungstheoretiker
(lsw) - Es ist auf den ersten Blick eine bunte Mischung an Menschen, die sich da versammelt hat am Samstag auf dem Cannstatter Wasen. Pärchen haben es sich mit Decken auf dem Boden gemütlich gemacht. Kinder malen mit Kreide auf den Teer. Ältere Frauen mit Deutschland-Kette tröten in die Vuvuzela. Tausende Menschen lauschen stehend oder sitzend im lauen Frühlingswetter den Reden und der Musik von der Bühne – fast wie auf einem Festival. Aber es ist eine Demonstration.
Die Menschen haben sich am Samstag versammelt, um gegen Corona-Maßnahmen und Kontaktbeschränkungen zu demonstrieren. Die Polizei schätzt am Tag danach, dass rund 5000 Menschen bei der Demo waren – das Wasen-Gelände sei ziemlich voll geworden. Bundesweit gibt es zunehmend ähnliche Demos. Kritiker befürchten eine Vereinnahmung durch Verschwörungstheoretiker und Rechtspopulisten.
Es ist nicht der einzige Protest im Südwesten an diesem Tag. Auch in Ravensburg, in Salem (Bodenseekreis) und Wangen im Allgäu (Kreis Ravensburg) demonstrieren Menschen gegen Corona-Beschränkungen. Die Polizei zählt dort und am Tag zuvor in Leutkirch (Kreis Ravensburg) rund 2500 Demonstrationsteilnehmer.
Hinter dem Stuttgarter Protest steht der IT-Unternehmer Michael Ballweg mit seiner Initiative „Querdenken“. Für seine „Mahnwache für die Grundrechte“hatte er diesmal 50 000 Teilnehmer angemeldet. Dem schob die Stadt einen Riegel vor: Ballweg erhielt die Auflage, die Versammlung auf maximal 10 000 Teilnehmer zu begrenzen. Mehr seien für Stadt und Polizei nicht machbar, sagte ein Sprecher der Stadt. Denn auch die Gegner der Corona-Beschränkungen müssen sich an die Regeln halten, die zur Eindämmung des Virus verordnet worden sind.
Ballweg tritt um kurz nach halb vier ans Mikrofon. „Achtung! Achtung! In Stuttgart ist das Freiheitsvirus ausgebrochen!“, ruft er in die Menge – und erntet Applaus. Er nimmt sich Zeit, die Medien zu kritisieren, die aus seiner Sicht verzerrt über seinen Protest berichten. Er spricht von einer überparteilichen Bewegung. Mit Rechten und Verschwörungstheoretikern habe man nichts zu tun. Zu den Rednern in Stuttgart zählt auch Ken Jebsen, der wegen umstrittener Äußerungen zu angeblichen Corona-Verschwörungen in der Kritik steht.
Die Demonstranten lassen sich nur schwer über einen Kamm scheren. Ein Polizeisprecher erzählt von „Menschen mit unterschiedlichsten Ansichten“auf dem Festgelände. Man sieht Friedensflaggen genauso wie Deutschlandfahnen. Ein Mädchen hält ein Pappschild mit dem Satz „Wir wollen wieder in die Schule“in die Luft. Auf dem Shirt eines Mannes steht „Nationaler Widerstand“. Auf Plakaten stehen Artikel aus dem Grundgesetz. Immer wieder sieht man auch den Slogan „Wir sind das
Volk“– ein Spruch, der zuletzt vor allem von Anhängern der rechten Pegida-Bewegung skandiert worden war.
Wenn die Namen von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) oder des Virologen Christian Drosten auf der Bühne fallen, wird kräftig gebuht. Manche tragen scherzhaft Aluhüte, eigentlich eine Metapher für Anhänger oft rechtslastiger Verschwörungstheorien. Ein 67-Jähriger trägt ein Schild um den Körper: „Corona-Hysterie killt Demokratie.“Er kommt aus der Nähe von Ulm, zum zweiten Mal demonstriert er mit. Seinen Namen will er nicht nennen. Es brauche „qualifizierten Schutz“für Risikogruppen, fordert er. Wer den dann nicht annehme, sei eben selber schuld.
„Die Maßnahmen sind völlig überzogen“, kritisiert eine ältere Frau aus
Tübingen, die auch nicht genannt werden will. Um ihren Hals trägt sie ein Schild, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“steht darauf. Die Medien versetzten die Menschen in Panik, die Maskenpflicht sei ein Witz. Und Bill Gates wolle sieben Milliarden Menschen zwangsimpfen. Dass es Italien so hart getroffen habe, liege am schlechten Gesundheitssystem dort und an der Luftverschmutzung.
Was die Demonstranten eint, ist die Ablehnung der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Sie wollen das Ende des Lockdowns. Manche halten die Pandemie für eine Lüge. Sie betrachten es als übertrieben, zu Hause bleiben zu müssen.
Auch in Berlin, Frankfurt, Köln und München kommen am Wochenende Tausende Menschen zusammen – oft unter Missachtung des Verbots großer Versammlungen und der Abstandsregeln. Darunter sind auch Verschwörungstheoretiker, Impfgegner, Rechtspopulisten und politisch schwer einzuordnende Menschen. In München und Nürnberg laufen die Demonstrationen aus dem Ruder, Abstandsund andere Regeln werden nicht mehr eingehalten. Mit 3000 Demonstranten überschreitet die Zahl der Teilnehmer die genehmigte Größenordnung in München bei Weitem, wie die Polizei mitteilte.
Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) bezeichnet es am Sonntag auch als „absolut unerträglich“, dass politisch extrem rechte Gruppierungen versuchten, die Stimmung auszunutzen, um ihre demokratiefeindliche Hetze zu verbreiten.
Ich versuche schon, mich in die Denkweisen auch dieser Mitmenschen hineinzuversetzen, aber es ist mir fast unmöglich.
Ich denke, dass die
Gruppe dieser
Demonstranten heterogen ist, einige sind prinzipiell immer dabei, wenn es
Demonstrationen gegen den
Staat gibt, andere verfolgen andere extreme politische
Ziele, wieder andere gehören in die Gruppe der „Verschwörungstheoretiker“. Diese letzte Gruppe macht mir als Virologe, aber vor allem als Bürger, besondere Sorgen, weil sie sich von rationalen Argumenten vollständig entfernt hat. Diese Menschen bewegen sich in ihrer eigenen „Informationsblase“und unterstellen immer, dass hinter allem, was von Wissenschaftlern und Politikern gesagt wird, etwas anderes „Geheimes, Ungesagtes“steckt. Daraus entsteht auch Wissenschaftsfeindlichkeit. Wissenschaft will aber genau das Gegenteil, nämlich die Natur und den Kosmos verstehen und für alle zugänglich erklären. Jeder Wissenschaftler ist verpflichtet, seine Ergebnisse zu veröffentlichen. Als Wissenschaftler halte ich solche Verschwörungstheorien für „bullshit“, aber auch der lässt sich über unsere modernen Kommunikationswege natürlich leicht verbreiten. Im „www“gibt es ja keine Qualitäts- und Richtigkeitskontrolle für „Informationen“.
Wenn viele Menschen zusammenkommen, wird es meist lauter – also muss der Einzelne auch lauter sprechen. Laut Forschern aus den USA und München gibt es Hinweise darauf, dass die Aussprache dadurch feuchter wird und die Infektionsgefahr steigt. Könnten diese Demonstrationen zu neuen Infektions-Hotspots werden?
Ja, beim lauten Sprechen und Singen nimmt, wie beim Husten, die „feuchte Aussprache“zu, und natürlich kann das in dichten Menschenansammlungen vermehrt zu Infektionen führen. Das dies gut funktioniert, ist ja unter anderem in Skikneipen und bei Karnevalsveranstaltungen gezeigt worden. Allerdings sind im Freien die Voraussetzungen für effektive SarsCoV-2-Ausbreitung wahrscheinlich weniger günstig als in geschlossenen Räumen.