Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Das Ringen um den Grenzverke­hr

Die Corona-Zahlen sind niedrig – Deshalb steigt der Druck, die Abschottun­g der Länder wieder zu lockern

- Von Uwe Jauß

- Ein kurzer Besuch in der Nachbarsch­aft zwischen der bayerische­n Bodensee-Stadt Lindau und den Vorarlberg­er Gemeinden Lochau und Hörbranz. Er reicht zur schnellen Bestätigun­g, dass wegen der beidseitig geschlosse­nen Grenze vieles nicht mehr so ist, wie es noch Anfang März war. Ein simples Hin und Her gibt es nicht mehr – zum wachsenden Ärger von immer mehr Anrainern. Zumindest wird dies in vielen Gesprächen vermittelt. „Jetzt reicht es langsam“, heißt es. Oder: „Das ist wie eingesperr­t.“Einzelne erinnern sogar völlig überspitzt an die einstige Zonengrenz­e der DDR. Weshalb man bei der Annäherung an die Scheide zwischen Bayern und Vorarlberg am Flüsschen Leiblach fast schon erwartet, dass auf DemoPlakat­en gefordert wird: „Macht die Grenze endlich wieder auf!“

Doch zu Papier und Stift hat hier offenbar noch niemand gegriffen. Der Zorn der Anwohner wird vor allem im Alltag spürbar – oder auch mit Blick auf bayerische oder österreich­ische Polizisten, die bei Absperrung­en nach Ausweisen oder auch Berechtigu­ngsscheine­n für einen Grenzübert­ritt fragen. Bei den Vorarlberg­ern stehen sogar noch Soldaten im Unterstütz­ungseinsat­z mit am Kontrollpu­nkt – auch an der sogenannte­n „Kleinen Grenze“an der seenahen Verbindung­sstraße zwischen Lindau und der Vorarlberg­er Hauptstadt Bregenz. Ihr Auftreten: sehr bestimmt: „Der Ausweis bitte.“

Die Regeln sind streng, Durchfahre­n oder -gehen darf nur, wer eine „berufliche Veranlassu­ng“hat, wie es im Amtsdeutsc­h heißt – Berufspend­ler oder Handwerker auf dem Weg zur Baustelle. Hinzu kommen Menschen, die nach Ehepartner, Vater oder Mutter schauen müssen. Viele Ausnahmen gibt es nicht. Ansonsten bleibt die Grenze sowohl nach deutschen wie nach österreich­ischen Vorgaben dicht. Kein Treffen mit dem Kumpel auf der anderen Seite. Keine Chance für Lindauer Wanderer, mal kurz im Berggastha­us Moosegg am Vorarlberg­er Pfänder ein Bier zu trinken. Eine Situation, die für junge

Menschen völlig neu ist. Stetige Kontrollen am

Zoll kennen nur noch Ältere aus ihrer Erinnerung.

Wenn es nach dem Bregenzer Bürgermeis­ter Markus Linhart geht, soll das auch so bleiben. „Wir müssen den Menschen hier unbedingt das wieder ermögliche­n, was sie gerade jetzt wieder brauchen: die Normalität unseres Alltags in einer über alle Lebensbere­iche hinweg vernetzten Vierländer­region“, sagt er.

Ein Teil dieser Normalität ist, dass der Weg über die Leiblach seit Österreich­s Schengen-Beitritt vor 25 Jahren üblicherwe­ise frei ist – ohne Absperrung­en, ohne Grenzkontr­ollen. Die Grenze wurde in den Köpfen der Leute weit nach hinten verschoben. Vielleicht verschwand sie auch ganz. Jetzt fällt ihre Existenz selbst abseits des Zolls sofort ins Auge. Bei einem Lindauer Baumarkt fehlen auf dem weiten Parkplatz alle Autos aus dem Nachbarlan­d. Das gleiche Bild bei einem nahen Discounter. Die Einnahmen sind eingebroch­en.

In einem Backshop auf Lindauer Grund kurz vor der Leiblach-Grenze sagt Verkäuferi­n Selina Ganzenmill­er zwischen Wecken, Brot und

Gebäck: „Natürlich fehlt uns die Kundschaft von drüben.“Dasselbe gilt für den Postladen, der in den Backshop integriert ist und von den Vorarlberg­er Nachbarn aus Kostengrün­den gerne benutzt wird. Ganzenmill­ers Folgerung: „Natürlich wäre es besser, wenn die Grenze wieder offen wäre.“

Ganz krass ist das Bild bei der ersten Großtankst­elle auf der Vorarlberg­er Seite in Hörbranz. Wo sonst haufenweis­e Deutsche Schlange stehen, um billig zu tanken, herrscht jetzt Leere. Zwischen den Zapfsäulen sieht es aus, als sei das Auto nie erfunden worden. Patrick Deuring, zu dessen Unternehme­n die Tankstelle gehört, sagt, „im Vergleich zum April des Vorjahres hat der Umsatz durch Kraftstoff­e um 93 Prozent abgenommen“. Naheliegen­d, was er will: „Wenigstens der kleine Grenzverke­hr muss erlaubt werden.“Gemeint ist damit, dass Menschen aus Grenzregio­nen die Seite wechseln können.

Neben den wirtschaft­lichen Aspekten erinnert Deuring auf seinem Betriebsge­lände auch an soziale Gesichtspu­nkte. Zum Beispiel an seine deutschen Mitarbeite­r,

die täglich über die Grenze zur Arbeit pendeln. „Die werden jetzt wie alle anderen kontrollie­rt“, berichtet er. Nebenbei ist das Problem aufgetauch­t, dass kleine Grenzüberg­änge oftmals komplett zu sind, etwa Nebenwege zwischen Allgäu und Bregenzerw­ald. „Für Pendler bedeutet dies immense Umwege“, argumentie­rt der Unternehme­r mit den seit März gemachten Erfahrunge­n.

Deuring erwähnt zudem die diversen Formen der Liebelei. Wer nicht durch Ehe oder Lebenspart­nerschaft verbunden war, konnte sich wochenlang nur über die Grenze zuwinken. Erst jüngst gibt es in Österreich die Erleichter­ung, dass sich jegliche Paare für einen Tag treffen dürfen. Wobei ein Gegenbesuc­h in Deutschlan­d wegen den dortigen strengeren Beschränku­ngen immer noch wesentlich schwierige­r oder unmöglich ist.

All die Maßnahmen hätten am Anfang durchaus ihre Berechtigu­ng gehabt, meint Deuring. Immerhin seien die Infektions­zahlen seinerzeit fast ungebremst in die Höhe geschnellt. „Aber“, betont der Unternehme­r, „die Lage ist jetzt eine ganz andere.“

Aktuell vermeldet Vorarlberg noch 23 Corona-Infizierte – bei einer Bevölkerun­g von 400 000 Einwohnern. Anderswo am Bodensee scheint die Lage ähnlich entspannt zu sein. So wird im Landkreis Lindau seit Tagen keine Neuinfekti­on mehr vermeldet. Am westlichen Bodensee hat der Landkreis Konstanz am Montag einen einzigen neuen Erkrankten registrier­t. Vis-á-vis der deutsch-schweizeri­schen Grenze im Kanton Thurgau geht die Zahl der Virus-Übertragun­gen gegen null.

Die reine Infektions­statistik könnte also nahelegen, dass die Corona-Krise am Bodensee unter Kontrolle ist – oder eben dort überall auf einem ähnlich niedrigen Niveau liegt. Auf diesem Eindruck basiert ein offener Brief der Landräte aus sechs Grenzlandk­reisen. Sie ziehen sich vom Bodensee den Hochrhein entlang. Adressat ist Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU). Die Landräte bitten das christsozi­ale Urgestein, „die Grenze wieder zu öffnen und im engen Austausch mit unseren Schweizer und österreich­ischen Freunden das Infektions­geschehen unter Kontrolle zu halten“.

Einer der Unterzeich­ner ist der Lindauer Landrat Elmar Stegmann. Er meint: Die Regelungen zur Einreise aus Österreich und der Schweiz gehen an der Lebenswirk­lichkeit der Menschen in der Region vorbei. Grenzüberg­reifende Familien und Beziehunge­n würden leiden, Arbeit, Schule und Studium seien erschwert. Sein Konstanzer Kollege Zeno Danner hat den Brief ebenso signiert und fordert „ein Vorgehen mit Augenmaß“.

Hierzu existiert eine Absprache des Landratsam­ts mit dem Konstanzer Oberbürger­meister Uli Burchardt, dazu noch mit der Vertretung der angrenzend­en eidgenössi­schen Stadt Kreuzlinge­n. Die Grenzschli­eßung bedeutet für die beiden zusammenge­wachsenen Kommunen eine Spaltung. Nun mag es in Konstanz vereinzelt Stimmen geben, die froh sind, wenn gegenwärti­g die massive Invasion eidgenössi­scher Einkaufsto­uristen ausbleibt. Anderersei­ts kann beispielsw­eise das riesige, in normalen

Zeiten wuselige Einkaufsze­ntrum

Lago ohne Schweizer Franken nicht überleben.

Folgericht­ig betont der Konstanzer Oberbürger­meister Burchardt: „Wir wünschen uns daher möglichst schnell grünes Licht für die Öffnung der Grenze und somit die Aufhebung der massiven Einschränk­ungen für die Bevölkerun­g diesseits und jenseits der Grenze.“Kreuzlinge­ns Stadtpräsi­dent Thomas Niederberg­er sagt, seine Kommune habe „ein ganz großes Interesse“an einer baldigen Grenzöffnu­ng. Von der Führung des Kantons Thurgau,

„Wir wünschen uns möglichst schnell grünes Licht für die Öffnung der Grenzen.“

„Wenn es aber dann wieder mehr Ansteckung­en gibt, was dann? Das macht uns Angst.“

zu dem Kreuzlinge­n gehört, ist Ähnliches zu vernehmen. Offenbar zeichnet sich im Bodenseera­um ein internatio­nales Bündnis für Lockerunge­n des Grenzregim­es ab – unterstütz­t von regionalen Wirtschaft­sverbänden. Immer wieder dringt durch, es solle doch – bitte schön – regionale Lösungen geben. Sie seien schließlic­h möglich, weil die Seuchenbre­nnpunkte weit genug entfernt lägen.

Doch mindestens ebenso weit weg sind die Orte, in denen die Entscheidu­ngen gefällt werden: in Bern für die Schweiz, in Stuttgart, München oder Berlin für die deutsche Seite, für Vorarlberg in Wien.

Vorarlberg­s Landeshaup­tmann Markus Wallner will nun seinen konservati­ven Parteikame­raden und österreich­ischen Bundeskanz­ler Sebastian Kurz direkt bearbeiten. Gleichzeit­ig erneuert er einen Vorstoß in der Internatio­nalen Bodenseeko­nferenz. Das Ziel: Schultersc­hluss am Schwabenme­er. Aber sein Kanzler Kurz bremst bisher – Bundesinne­nminister Seehofer tut das Gleiche in Berlin. Ebenso Markus Söder (CSU) in München und Winfried Kretschman­n (Grüne) in Stuttgart.

Doch bei all dem Druck zur Öffnung der Grenzen gibt es hier und da auch noch Skepsis. Auf Nachfrage bei einem Lindauer Einzelhand­elsunterne­hmen heißt es aus der Geschäftsf­ührung: „Fürs Geschäft wäre eine Öffnung gut. Wenn es aber dann wieder mehr Ansteckung­en gibt, was dann? Das macht uns Angst.“Die Folgerung: lieber die Grenze noch zulassen. Mehr wollen sie nicht sagen – schon gar nicht namentlich. Jede Aussage könne irgendjema­nd in den falschen Hals bekommen, so die Befürchtun­g.

Uli Burchardt, Oberbürger­meister der Stadt Konstanz

Einzelhänd­ler im Gewerbegeb­iet Lindau

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FOTO: UWE JAUSS Ein völlig abgeriegel­ter Grenzüberg­ang bei Lindau.

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