Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Das ist etwas, das Vertrauen stärken könnte“

Der Ulmer Virologe Thomas Mertens zum Hin und Her bei der Verwendung des Astrazenec­a-Impfstoffs

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Die Stiko hatte am Dienstag empfohlen, Astrazenec­a nur noch Über-60-Jährigen zu verabreich­en, nachdem 31 Verdachtsf­älle einer Hirnvenent­hrombose gemeldet worden waren. In neun Fällen endete sie tödlich. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) hatte bereits am Freitag zuvor von den Problemen erfahren, bestätigte eine Regierungs­sprecherin. Sie habe aber erst die Expertise des Ehtikrats und der Nationalen Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina hinzuziehe­n wollen.

Allein über das Osterwoche­nende sollen 1,7 Millionen Dosen Astrazenec­a geliefert werden. Im gesamten zweiten Quartal rechnet Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) mit etwa 15 Millionen Dosen. Sie sollten schnellstm­öglich verimpft werden. Es gebe mindestens 24 Millionen Menschen über 60 in Deutschlan­d. Ausreichen­d viele nähmen das Angebot gerne an. „Denn der Schutz ist gut.“Der Chef der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung (KBV), Andreas Gassen, hätte als 58Jähriger keine Bedenken, sich mit Astrazenek­a impfen zu lassen. „Die Nebenwirku­ngen sind selten.“Er verwies darauf, dass auf den Beipackzet­teln etwa bestimmter Rheumamedi­kamente oder von Anti-Baby-Pillen „in deutlich höheren Größenordn­ungen gleich schwere Risiken“genannt würden. Auch in Großbritan­nien wurden rund 30 Fälle von seltenen Blutgerinn­seln gemeldet. Angesichts von mehr als 18 Millionen Impfungen mit Astrazenec­a hält die britische Arzneimitt­elbehörde das Risiko aber für „sehr klein“.

Womit sollen Hausärzte impfen?

Ab Mittwoch sollen zunächst 35 000 Hausärzte die bundesweit 430 Impfzentre­n ergänzen. Sie kommen zu jenen Praxen hinzu, die bereits auf Initaitve der Länder Patienten immunisier­en: In Bayern wird seit vergangeme Mittwoch in mehr als 1630 Praxen geimpft, in Baden-Württember­g

- Zunächst war der Impfstoff nicht für Senioren freigegebe­n, dann für alle – und nun nur noch für Menschen, die älter sind als 60 Jahre. Als Chef der Ständigen Impfkommis­sion am Robert-KochInstit­ut ist der Ulmer Virologe Thomas Mertens an diesem Entscheidu­ngsprozess führend beteiligt gewesen. Ulrich Mendelin hat ihn befragt.

Herr Mertens, wie würden Sie die erneute Änderung der Altersgren­zen beim Impfstoff Astrazenec­a jemandem erklären, der das Vorgehen für widersprüc­hlich hält?

Im Grunde ist es einfach. Wir können nur auf der Grundlage verfügbare­r jeweils wissenscha­ftlicher Daten prüfen und empfehlen. Die Nebenwirku­ng konnte erst kürzlich vom Paul-Ehrlich-Institut entdeckt werden, nachdem viele Menschen geimpft worden waren, denn die schwere Nebenwirku­ng ist mit 1 bis 2 je 100 000 sehr selten und konnte in den Zulassungs­studien nicht gesehen werden. Wir hatten genau dies den Menschen vor Beginn der Impfkampag­ne versproche­n, nämlich dass genau aufgepasst werden würde, und das ist geschehen. Die Tatsache, dass ein seltenes Risiko in einer bestimmten Altersgrup­pe – mit heftigerer Reaktion auf die Impfung – rasch entdeckt wurde und rasch entspreche­nd gehandelt wurde ist eigentlich etwas, was Vertrauen stärken könnte.

Tatsächlic­h aber dürften mit der jüngsten Entscheidu­ng die generellen Zweifel am Astrazenec­a-Impfstoff eher wachsen. Haben Sie für diese Zweifel Verständni­s?

Ja, aber die jetzige Folge eines Sicherheit­ssignals in einer bestimmten Altersgrup­pe hat nichts mit der Wirksamkei­t des Impfstoffe­s bei älteren Menschen zu tun.

Unsicherhe­it gibt es auch bei der Frage, wie es nach den Osterferie­n an den Schulen weitergehe­n soll. Bislang hieß es, Kinder seien durch das Coronaviru­s weniger gefährdet als Erwachsene. Mit dem verstärkte­n Auftreten der britischen Mutante scheint sich dies zu ändern, in keiner Altersgrup­pe ist der Anstieg der Neuinfekti­onen so stark wie bei Kindern unter 14 Jahren. Gilt das auch für die Zahl der schweren Krankheits­verläufe?

Nein und ja. Kinder und junge Menschen haben weiterhin ein wesentlich geringeres Risiko bei einer SARS-CoV-2 Infektion schwer zu erkranken. Wenn natürlich viel mehr Kinder infiziert werden, dann werden absolut gesehen auch mehr erkranken.

Wenn Schulen und Kindergärt­en so weit wie möglich geöffnet bleiben sollen, stellt sich umso drängender die Frage nach einem Impfstoff für Kinder. Warum dauert die Entwicklun­g eines Impfstoffe­s für Kinder so viel länger als für Erwachsene?

Es geht dabei nicht um die Entwicklun­g eines neuen Impfstoffe­s. Es muss durch Ergebnisse aus klinischen Studien sichergest­ellt werden, dass der Impfstoff auch bei Kindern sicher und wirksam ist. Das ist in den bisherigen Studien nicht untersucht worden, aber zurzeit laufen solche Studien, in denen Kinder geimpft und nachverfol­gt werden. Sobald diese Studien abgeschlos­sen sind, kann eine Erweiterun­g der Zulassung durch die Europäisch­e Arzneimitt­el-Agentur EMA erfolgen.

Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn hatte davon gesprochen, dass im Sommer ein Impfstoff für Kinder zur Verfügung stehen könnte. Halten Sie ihn für zu optimistis­ch?

Ich glaube, dass die ersten Zahlen noch schneller verfügbar sein werden.

Wie wichtig ist die Freigabe eines Impfstoffe­s für Kinder für das Ziel, eine ausreichen­d hohe Impfquote in der Gesamtbevö­lkerung zu erreichen?

Im Augenblick stehen bei den verfügbare­n Impfstoffd­osen die Kinder nicht so im Vordergrun­d der Bemühungen um den Individual­schutz, also den Schutz des gefährdete­n einzelnen Menschen. Wenn wir viel Impfstoff haben werden, wäre es natürlich auch sehr wichtig, die Kinder für den Gemeinscha­ftsschutz „Herdenimmu­nität“impfen zu können.

Die Stiko empfiehlt, dafür auf ein anderes Präparat umzusteige­n. Zwölf Wochen nach der Erstimpfun­g solle eine Dosis eines mRNA-Impfstoffs verabreich­t werden, heißt es in einer Beschlusse­mpfehlung der Stiko. Damit kämen derzeit die Präparate von Biontec und Moderna infrage. Nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts haben bisher 2,85 Millionen Personen eine Erstimpfun­g mit dem Astrazenec­a-Vakzin erhalten, darunter allerdings auch Über-60-Jährige. Ein zweites Mal wurden demnach deutschlan­dweit erst knapp 2000 Menschen mit dem Präparat geimpft.

Viele Unternehme­n kämpfen ums Überleben. Bekommen sie endlich mehr Hilfe?

Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) und Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) haben sich am Donnerstag auf zwei weitere Maßnahmen geeinigt. Zum einen können Unternehme­n einen Eigenkapit­alzuschuss von mindestens 25 Prozent erhalten, wenn sie mehr als zwei Monate lang einen Umsatzeinb­ruch von 50 Prozent und mehr erlitten haben. Zum anderen wird die Überbrücku­ngshilfe III aufgestock­t: Unternehme­n, die einen Umsatzeinb­ruch von mehr als 70 Prozent erleiden, können bis zu 100 Prozent ihrer Fixkosten bekommen. Bisher waren es maximal 90 Prozent. Zudem erhalten neben Einzelhänd­lern auch Hersteller und Großhändle­r Sonderabsc­hreibungsm­öglichkeit­en für Saisonware.

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