Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Ein Turnier wie keines zuvor
EM-Gastgeber müssen sich in der Zuschauerfrage erklären – Fanforscher Lange skeptisch
- Gut gefüllte Ränge, den Fußball genießende und alles andere vergessende Fans, die Joshua Kimmich, Manuel Neuer oder Serge Gnabry in ihrem Münchner Wohnzimmer zu EM-Siegen schreien – dieser Traum lebt weiter. Inwiefern er inmitten einer Pandemie sinnvoll oder auch nur halbwegs planbar ist, bleibt einmal dahingestellt, doch zumindest hat die bayerische Landeshauptstadt ebenso wie wohl die anderen elf Ausrichterstädte die erste formale Hürde genommen und rechtzeitig vor der Deadline am Mittwoch Konzepte für eine Teilzulassung von Zuschauern eingereicht.
Doch es bleiben große Zweifel, welchen Wert das Münchner Schriftstück haben wird. Denn in diesem ersten Schritt mussten die zwölf Gastgeber lediglich ihre prinzipielle Bereitschaft für Spiele mit Fans zusichern. Eine Garantie für die Zulassung von Zuschauern wurde in dieser Phase des Entscheidungsprozesses noch nicht verlangt. Doch das wird zeitnah folgen – und ein derartiges Bekenntnis ist von der Stadt München noch nicht zu bekommen.
Derzeit gebe es verschiedene Planungsszenarien, was die Zuschauerfrage betrifft, heißt es in der Mitteilung der Stadt: „Welches Szenario letztlich umgesetzt werden kann, wird vom aktuellen Pandemie-Geschehen im Juni beziehungsweise Juli abhängen.“Doch bereits im Rahmen des Treffens des UEFA-Exekutivkomitees am 19. und 20. April oder spätestens bis Ende des Monats soll eine Entscheidung über das Format der derzeit in zwölf Ländern geplanten EM (11. Juni bis 11. Juli) fallen.
Bei DFB-Vizepräsident Rainer Koch, Mitglied des UEFA-Exekutivkomitees, schrillen die Alarmglocken. In anderen Ländern sei nicht nur das Impftempo „deutlich schneller“, sondern auch die „Entwicklung sowie Umsetzung von Spielkonzepten mit Zuschauern sehr viel weiter fortgeschritten“, sagte der 62-Jährige. Er könne nur an die Behörden appellieren, „um tragfähige Konzepte für zumindest eine Teilzulassung von Zuschauern auch bei den Spielen in München zu ermöglichen“.
Doch scheint dies fraglich. Während aus anderen Städten längst klare positive Signale bezüglich der Zulassung von Fans zu hören waren, beruft sich München bislang auf „die zum Zeitpunkt der Europameisterschaft geltende Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung“. Demnach kann es eine Garantie bis Ende April eigentlich nicht geben.
Die UEFA beteuert zwar offiziell, dass keine Stadt, in der hinter verschlossenen Türen gespielt werden müsste, automatisch ausscheide. Doch die Aussagen von Verbandspräsident Aleksander Ceferin sind eindeutig: „Jeder Ausrichter muss garantieren, dass Fans zu den Spielen dürfen. Die Option, dass irgendein Spiel der EM ohne Fans ausgetragen wird, ist vom Tisch.“
Das Einreichen von Konzepten war bloß der erste Schritt zu einer Europameisterschaft vor möglichst gut gefüllten Rängen. Es sei „erfreulich,
dass alle Städte bereits positiv reagiert haben“, sagte UEFA-Turnierdirektor Martin Kallen dem Sender TV3 Sport. „Ich kann aber sagen, dass es von Stadt zu Stadt große Unterschiede gibt, inwieweit die Stadionkapazität genutzt werden soll.“
Mit der Aussetzung der Zuschauerobergrenze ist längst ein europaweiter Wettstreit um die größten Öffnungsschritte für Fans entbrannt. Wer nicht mitmacht, könnte seinen Status als Gastgeber verlieren. Denn der Ticketverkauf gehört zu den größten Einnahmequellen für die UEFA. Kein Wunder, dass die schnellstmöglich klare Bekenntnisse fordert. München, wo die Gruppenspiele der deutschen Nationalmannschaft gegen Frankreich, Portugal und Ungarn (15., 19. und 23. Juni) sowie ein Viertelfinale geplant sind, wird bald mehr liefern müssen. Doch wird es wohl vor allem am Fortschreiten der Impfung und dem Zurückdrängen der Infiziertenzahlen hängen.
Wie es sich halbwegs normal anfühlt, das konnte jetzt bereits in den USA wieder genossen werden. Zum ersten Mal seit Beginn der CoronaPandemie hat ein Wettkampf einer der großen US-Ligen in einem nahezu komplett gefüllten Stadion stattgefunden. Offiziellen Angaben zufolge trugen die Texas Rangers ihr Heimspiel zu ihrer Saisoneröffnung in der Major League Baseball (MLB) gegen die Toronto Blue Jays (2:6) vor 38 238 Zuschauern aus.
Doch sind es nicht ausschließlich
Harald Lange die Corona-Umstände, die dem DFB EM-Sorgen bereiten dürften. „Zur Zeit sieht es ja sportlich ziemlich finster aus, nicht erst seit der Niederlage gegen Nordmazedonien. Hinsichtlich des Faninteresses befindet sich die Nationalmannschaft zudem schon länger im Abseits, das wird nun alles noch durch die Umstände verstärkt“, weiß Harald Lange. Der Fanforscher sieht das Handlungsgebaren der UEFA gegen „jede erklärbare gesellschaftliche Logik“gerichtet. Dies würde die Vorbehalte der Fußballfans noch mehr befeuern und zu einer Ablehnung des Turniers führen. „Ein kurzes Antwortschreiben des DFB wäre hier richtig gewesen“, ist sich Harald Lange sicher: „Nach dem Motto: Man kann zum jetzigen Zeitpunkt nichts versprechen, und wir werden den Fußball genau wie jede andere Kunst- und Kulturveranstaltung behandeln.“
Doch bleiben die Stadien dann wirklich leer? „Es gibt ein allgemeines Desinteresse an der Fußballnationalmannschaft, zudem haben die Menschen nach einem Jahr Pandemie andere Sorgen, doch es gibt immer ein paar Puristen, die ins Stadion gehen werden“, so Lange, der an der Universität Würzburg als Professor lehrt. Auch abseits der Stadien dürfte es wenig Altbekanntes geben. „Die Spiele schaut man ja meist mit Freunden, zu einem Turnier trifft man sich mit vielen Leuten im Garten und ähnliches. Das fällt nun wohl weg, und damit geht auch ein großer Reiz verloren“, prognostiziert Lange.
Es dürfte also – ob mit oder ohne Fans – eine EM werden, wie sie die Fußballfans bisher nie erlebt haben – und auch nie erleben wollten.
„Es gibt ein allgemeines Desinteresse an der Nationalmannschaft.“