Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Das sind die Regeln
Ziel ist es, den Reproduktionswert (R-Wert) unter 1 und damit die Zahl der Infektionen zu senken. Das gelingt am besten über Kontaktreduktion. Die Reproduktionszahl steht dafür, wie viele andere Menschen eine infizierte Person im Mittel ansteckt. Berit Lange vom HZI erklärt, dass vielen Corona-Maßnahmen Kontaktstudien zugrunde liegen, die schon vor der Pandemie erhoben wurden. Sie zeigen, wo und warum sich Menschen treffen. „Daher wissen wir ganz gut, in welchen Bereichen wie viele Kontakte passieren.“Dort setzen die Maßnahmen an. Bewegungsdaten des Statistischen Bundesamtes für BadenWürttemberg legen nahe, dass die Maßnahmen Einfluss auf die Mobilität und damit auf die Kontakte haben. Vor allem zu Beginn der Pandemie verkleinerte sich der Bewegungsradius der Bürger um fast 60 Prozent zum gleichen Zeitraum in 2019. Auch Anfang dieses Jahres war die Mobilität um 40 Prozent niedriger. Allerdings nahm sie wieder zu, bis sie um Ostern herum fast gleich hoch, und in manchen Regionen sogar höher war als vor der Pandemie.
Weshalb ist es schwierig, Aussagen über die exakte Wirksamkeit der Maßnahmen zu treffen?
Für optimale Aussagen müsste es eine Kontrollgruppe geben. Das heißt: Forscher beobachten Menschen, die sich an bestimmte Regeln zum Schutz vor Infektionen halten sowie eine zweite Gruppe, die dies nicht tut. Nur so könnte man exakt nachweisen, welchen Einfluss die Schutzmaßnahmen haben. Mitten im Geschehen ist das schwierig, zumal europaweit ähnliche Regeln gelten. Stattdessen konzentriert sich die Wissenschaft auf Beobachtungsstudien. Dabei schauen Forscher vor allem auf Unterschiede, die es regional dann doch gibt. Daraus leiten sie ab, was einen Effekt auf den RWert hat. Die Universität Oxford hat eine solche Übersichtsarbeit erstellt. Darin betrachtet sie 17 Maßnahmen in sieben europäischen Ländern, darunter Deutschland, und berechnet, wie groß der Einfluss der Maßnahme auf die Senkung des R-Werts war.
Was bringen Ausgangsbeschränkungen?
Aus der Arbeit der Universität Oxford geht hervor, dass nächtliche Ausgangsbeschränkungen den R-Wert zwischen sechs und 20 Prozent senken. „Selbst sechs Prozent als unterer Bereich der Schätzung sind gar nicht so wenig“, sagt Lange. „Ich kann nicht beurteilen, ob nächtliche Ausgangssperren juristisch gerechtfertigt sind, aber aus epidemiologischer Sicht sind sie schon wirksam.“Professor Haibel vertritt eine andere Meinung: „Ich persönlich halte nächtliche Ausgangssperren für nicht sehr sinnvoll.“Er bezweifle, dass ihr Nutzen den Schaden überwiegt. „Das verursacht unglaublich viel Unruhe und hat so ein Gschmäckle von Kriegsrecht.“
Welche Rolle spielt die Schließung von Bildungseinrichtungen?
Laut Michael Haibel und Berit Lange sind Schul- und Kitaschließungen effektiv. Das zeigt auch die Oxford-Studie, die davon ausgeht, dass geschlossene Bildungseinrichtungen den RWert zwischen vier und zehn Prozent senken. Dafür sind die negativen Auswirkungen auf viele Kinder und Jugendliche
groß. Schulschließungen hätten für die Betroffenen teilweise schwere gesundheitliche und psychische Nebenwirkungen, gibt Lange zu bedenken. Das gelte dagegen nach jetzigem Stand nicht für nächtliche Ausgangsbeschränkungen.
Was bringen geschlossene Einzelhandelsgeschäfte, Zoos und Gastronomie?
Die Studie aus Oxford kommt zu dem Ergebnis, dass auch diese Maßnahmen den R-Wert um mehrere Prozent senken. „Vielleicht wäre es möglich, die Außengastronomie zu öffnen“, sagt Haibel. „Aber nur mit entsprechend großen Abständen und Wänden als Spuckschutz.“Für Berit Lange kommen derzeit keine Öffnungen der Außengastronomie infrage. Das sei erst denkbar, wenn die Infektionszahlen sinken: „Dann ist das einer der Bereiche, den man vermutlich relativ früh, zum Beispiel mit guten Testkonzepten, risikoarm öffnen kann.“
Was bringt es, dass sich nur zwei
Haushalte treffen dürfen und das Reisen reduziert wird?
In der Oxford-Studie sind die direkten Kontaktbeschränkungen eine der effektivsten Maßnahmen. Auch deshalb plädiert Haibel dafür, wesentlich mehr im Homeoffice zu arbeiten. Er führt aus, dass in Regionen, in denen strikte Maskenpflicht gilt und die Kontakte reduziert wurden, die Infektionszahlen „dramatisch gesunken“sind. Als Beispiel nennt er Portugal. Dort stiegen Anfang des Jahres die Infektionszahlen rasant an. Das Land schränkte die Mobilität konsequent ein. Inzwischen liegt die Sieben-Tage-Inzidenz beinahe überall bei unter 35 pro 100 000 Einwohnern. Zum Vergleich: In Süddeutschland liegt der Wert derzeit bei über 170. Reisen stehen beide Wissenschaftler skeptisch gegenüber. „Die Gefahr, sich anzustecken, steigt in Regionen mit höherer Inzidenz“, sagt Haibel. Lange verweist auf die Gefahr, neue Varianten zu verbreiten. Auch der Besuch von Ferienwohnungen würde der Idee entgegenstehen, die Mobilität zu verringern.
Die Vorgaben der bundeseinheitlichen Corona-Notbremse sind verbindlich, dürfen von den Bundesländern aber weiter verschärft werden. Ab wann sie gelten, ist noch offen.
Kontaktbeschränkungen werden einheitlich geregelt: Überschreitet die Sieben-Tage-Inzidenz in einem Kreis den Wert von 100 an drei Tagen hintereinander, dürfen sich Mitglieder eines Haushalts nur noch mit maximal einer Person treffen.
Es soll nächtliche Ausgangsbeschränkungen zwischen 22 und 5 Uhr geben. Allein darf man zum Spaziergang oder zum Joggen bis Mitternacht ins Freie.
Schließen müssen Freizeiteinrichtungen, Restaurants, Spielhallen, touristischer Verkehr, Schwimmbäder, Diskotheken, Kultureinrichtungen. Auch Geschäfte dürfen nicht öffnen mit Ausnahme des Lebensmittelhandels. Getränkemärkte, Reformhäuser, Apotheken, Drogerien, Tankstellen, Buchhandlungen, Blumengeschäfte, Tierbedarfsund Gartenmärkte müssen auch nicht schließen.
Bei den Schulen greift der Bund bei einer Sieben-TageInzidenz von 100 noch nicht ein. Geschlossen werden sollen Schulen aber, wenn die Inzidenz 165 übersteigt. (epd)
Was bringen Masken und Tests? Professor Haibel verwendet das Bild von Viren als kleinen Aerosolflugzeugen, die man nicht starten lassen dürfe. „Genau das ist die Wirkung der Maske.“Nach wie vor sei deshalb Maske tragen aber auch Abstand halten essenziell. Tests halten beide Forscher für sinnvoll, wichtiger sei es aber, möglichst rasch viele Menschen zu impfen und bis dahin auf einen Mix der beschriebenen Maßnahmen zu setzen. Erst im Zusammenspiel entfalteten die Maßnahmen die größte Wirkung, betont Lange. Sie sollten schnell und konsequent umgesetzt werden, bevor die Zahlen weiter steigen und sich die Dauer der Maßnahmen entsprechend verlängere. Sinnvoll wäre wohl eine harter Lockdown von drei Wochen, so Haibel. Aber klar sei: „Politiker müssen immer Kompromisse eingehen.“
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