Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Frust im Freibad
Bäder bleiben wegen der Corona-Pandemie bis auf Weiteres geschlossen – Experten fürchten eine Generation von Nichtschwimmern
KRESSBRONN - Der Anblick hat etwas Verlorenes: Einsam sitzt der Kressbronner Bademeister Siegfried „Siggi“Kathan auf einer Steinbank am Seeufer. Hinter ihm erstrecken sich drei Hektar menschenleeres Naturstrandbad, nur ein Eichhörnchen tollt auf der Wiese. Nebenan glitzert ruhig und friedlich der Bodensee. Eigentlich sollten sich hier auf dem Gras und im Wasser ab 1. Mai Tausende Menschen tummeln, Kinder kreischen und Pommesduft zwischen den Bäumen wehen. Doch die Corona-Pandemie macht einmal mehr einen Strich durch die Rechnung, Frei- und Hallenbäder dürfen vorerst nicht öffnen. Damit bleibt nicht nur das Schwimmvergnügen auf der Strecke, Experten fürchten drastische Folgen.
„Jeden Tag fragen mich die Leute, wann wir denn jetzt aufmachen.
Bisher muss ich sie vertrösten, ich weiß es nicht“, erzählt
Kathan. Dabei wäre eigentlich so gut wie alles bereit zur traditionellen Eröffnung am 1. Mai: Die Wiese steht im Saft, die neuen digitalisierten Einlassautomaten sind installiert, 1500 Saisonkarten schon verkauft und frisch errichtete Sportgeräte warten auf ihren ersten Einsatz. 500 000 Euro hat die Gemeinde Kressbronn in Modernisierung und Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung gesteckt. „Eine Investition in die Zukunft“, betont Kressbronns Bürgermeister Daniel Enzensperger. Trotzdem sei es schade, dass eine extra geplante größere Eröffnungsfeier erst einmal ausfällt.
Denn noch heißt es warten. Die Corona-Verordnung des Landes und die Bundes-Notbremse lassen eine Öffnung von Freibädern bislang nicht zu, egal, wie hoch die Inzidenzwerte in einer Region sind. Für Kathan, gleichzeitig Betriebsleiter und Pächter des Bads, eine schwierige Situation. „Es ist eine Herausforderung. Die Vorbereitungen müssen trotzdem gemacht werden.
„Es wächst regelrecht eine Generation von Nichtschwimmern heran.“
Auch die Verträge mit der Gastronomie sind schon abgeschlossen. Wir müssen ja jederzeit bereit sein, schnell zu eröffnen, wenn das Okay kommt“, sagt er. Verrückt machen lassen will sich Kathan, der seit mehr als zwölf Jahren die Aufsicht im Naturstrandbad hat, aber nicht. „Wir müssen cool bleiben, es hilft ja nichts. Wenn wir aufmachen dürfen, machen wir auf, vorher nicht. So ist das eben.“
Hoffnung macht die vergangene Saison. Trotz verspätetem Start und der Auflage, maximal 3000 Badegäste gleichzeitig einzulassen, können die Zahlen sich auch dank des guten Wetters sehen lassen. Rund 150 000 Gäste kamen, lange Schlangen vor den Eingängen zeugten vom großen Andrang in Pandemiezeiten. Auch die anderen Freibäder am Bodensee freuten sich über zahlreiche Gäste aus ganz Deutschland. Kathan ist überzeugt, dass die Menschen gerade jetzt ihr Schwimmbad brauchen. „Wir können die Leute ja nicht ewig abhalten. Wenn wir nicht öffnen, gehen die Menschen an anderen Stellen ins Wasser, wo es keine Aufsicht gibt. Hygiene- und sicherheitstechnisch ist das risikoreicher als hier“, erklärt der 51-Jährige. Die Erfahrungen aus dem vergangenen Jahr sieht er als Bestätigung. „Wir hatten jede Menge Gäste, aber keinen einzigen Fall einer Ansteckung.“
Bei drei Hektar Fläche und 3000 Besuchern bleiben theoretisch für jeden zehn Quadratmeter Platz. An der frischen Luft sei das ausreichend, meint Kathan. Verständnis gab es nicht bei allen Besuchern, Streit um nicht eingehaltene Abstände oder Wutausbrüche angesichts der Zugangsbeschränkungen seien durchaus vorgekommen. Vor dem Eingang musste schlussendlich der Gemeindevollzugsdienst für Ordnung sorgen. „Viele Menschen haben in der Krise eine kurze Zündschnur bekommen“, meint Kathan. Für ihn ein Grund mehr, das Freizeitvergnügen im Freibad wieder zuzulassen. Was das angeht, hofft der Pächter auf ein Einsehen der
Ursula Jung, Vizepräsidentin des DLRG-Landesverbands Württemberg
Entscheidungsträger. „Ich gehe mal davon aus, dass die Vernunft am Ende siegt und wir spätestens an Pfingsten wieder unter den bewährten Auflagen öffnen können. Noch sind wir aber nicht auf dem Schirm der Politik.“Sollten die Bäder doch noch länger geschlossen bleiben müssen, fürchtet der erfahrene Bademeister weitere Folgen, zumal auch die Hallenbäder über Herbst und Winter geschlossen blieben und kaum jemand schwimmen durfte. „Die Kinder können jetzt schon immer schlechter schwimmen. Es wird für uns am Wasser sicher mehr Arbeit geben, je länger die Bäder zubleiben.“
Eine Befürchtung, die die Deutsche Lebensrettungs-Gesellschaft (DLRG) teilt. Dort schätzt man die Lage sogar noch dramatischer ein. „Es wächst regelrecht eine Generation von Nichtschwimmern heran“, sagt Ursula Jung, Vizepräsidentin des Landesverbands Württemberg. „Wir fürchten, dass in der Folge mehr Kinder und Jugendliche ertrinken“, warnt sie.
Seit eineinhalb Jahren habe man keine Kurse mehr anbieten können, auch die Ausbildung für Lebensretter im Wasser bleibe auf der Strecke. In Baden-Württemberg ging die Zahl der ausgestellten Schwimmabzeichen von 2019 auf 2020 um 70 Prozent zurück. Wurden 2019 noch über 6000 Prüfungen erfolgreich absolviert, waren es 2020 nur noch weniger als 1400. „Das können wir, wenn überhaupt, nur durch massenweise zusätzliche Intensivkurse aufholen“, sagt Jung. Aber dafür bräuchte es geöffnete Bäder.
„Wir appellieren deshalb: Öffnet die Bäder für Schulen, Vereine, die DLRG und die Schwimm-ausbildung.“Betrachtet man Erhebungen zu den Schwimmfähigkeiten von Kindern, erscheinen die Befürchtungen durchaus begründet. Schon 2017 zeigte eine Forsa-Umfrage im Auftrag der DLRG: 59 Prozent der Zehnjährigen können nicht sicher schwimmen. Der Anteil der Nichtschwimmer oder unsicheren Schwimmer in der Gesamtbevölkerung liegt laut der Erhebung bei mehr als 50 Prozent. Als Grund wurden damals neben der zurückgehenden Ausbildung in den Schulen schon Bäderschließungen ermittelt. Im vergangenen Jahr ertranken 39 Menschen in BadenWürttemberg, darunter drei Kinder unter zehn Jahren. Die Zahlen allein sind beunruhigend, viel bedrückender sind allerdings die Einzelschicksale, die dahinterstecken. In Pfullendorf etwa verlor im Juli ein achtjähriges Mädchen in einem Badesee sein Leben.
Dass die Grundschülerin untergegangen war, wurde erst nach einigen Minuten bemerkt, alle Wiederbelebungsversuche nach der Bergung blieben erfolglos. Die Polizei vermutete damals, dass das Kind am steil abfallenden Ufer den
Boden unter den Füßen verlor. Schwimmfähigkeiten – und das ist das Wichtigste daran – können Leben retten. Aber sie können auch sportliche Erfüllung bieten.
Lukas Schenk, Vorsitzender des Schwimmvereins Friedrichshafen, bedauert deshalb ein „verlorenes Jahr“für den Nachwuchs. „Mir tut es vor allem leid für die jungen Schwimmerinnen und Schwimmer, die jetzt eigentlich voll im Saft stehen und hart trainieren könnten“, sagt er. Aktuell dürfen nur fünf Kaderathletinnen und -athleten des Vereins im Sportbad Friedrichshafen schwimmen. Alle anderen sitzen seit Monaten auf dem Trockenen. „Das wird sich vor allem auf die Nachwuchsentwicklung auswirken“, glaubt Schenk. Er befürchtet, dass Deutschlands Schwimmer dadurch auch international den Anschluss verlieren könnten – und dass die Vereine in Schwierigkeit geraten.
Noch zählt der Deutsche Schwimmverband (DSV) etwa 600 000 Mitglieder und rund 2500 Vereine. Aber Wettkämpfe gibt es derzeit kaum – und wenn dann nur für die Kaderschwimmer. Die Schwimmverbände Baden und Württemberg fordern deshalb in einem gemeinsamen Brief mit der DLRG an Ministerpräsident Kretschmann (Grüne), Kultusministerin Eisenmann (CDU) und Sozialminister Lucha (Grüne) Öffnungsschritte für Schwimmbäder und -ausbildung. Man habe bereits vor dem zweiten Lockdown bewiesen, dass Vereinssport auch unter Pandemiebedingungen verantwortungsbewusst möglich sei, heißt es darin. Mit Hygienekonzepten, kleinen festen Gruppen und Dokumentation zur Nachverfolgung von Kontakten lägen die Öffnungsargumente auf der Hand, schreiben die Verbände.
Aktuelle Studien, wie beispielsweise eine der TU Berlin, deuten darauf hin, dass die Ansteckungsgefahr in Schwimmhallen unter Auflagen weniger groß ist als in gewöhnlichen Sporthallen oder Fitnessstudios. Untersuchungen aus dem letzten Jahr zeigen außerdem, dass die Ansteckungsgefahr im Wasser – ob im Freibad durch die Verdünnung oder im Hallenbad durch die Reinigung – gering ist.
Ob der Appell der Verbände und die Wünsche der Freibadbetreiber ankommen, muss sich in den nächsten Tagen und Wochen zeigen. Bis dahin bleibt auch Bademeister Siggi Kathan im leer gefegten Strandbad in Kressbronn weiter nur das Warten auf die ersten Gäste – und damit auch auf die ersten Einnahmen. „Die Eichhörnchen zahlen ja nicht“, sagt er.
Einen Überblick über Freibäder in der Region finden Sie unter