Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Kinder im Zentrum der Pandemie
Was Wissenschaftler über junge Corona-Patienten wissen
- Über die Rolle von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie ist viel gestritten worden. Auch, weil daran die Frage hängt, inwieweit man Schulen und Kitas offen halten und damit Bildung und Betreuung sichern kann. Oder ob man Bildungseinrichtungen quasi als Umschlagsstationen für das Virus ansehen muss, die die Pandemie befeuern.
Mittlerweile sieht man klarer. Fakt ist: Kinder werden nur sehr selten sehr krank. Aber im Unterschied zu 2020 stecken sie sich jetzt häufig an. Und gefährden damit die eigene Familie – denn Eltern sind häufig nicht so alt und nicht so vorerkrankt, um bereits geimpft zu sein. Der Virologe Martin Stürmer von der Universität Frankfurt/Main warnt, dass infizierte Kinder das Virus an „gefährdetere Gruppen wie Eltern oder Großeltern“weitergeben.
Tatsächlich liegen auf den Intensivstationen immer mehr Menschen im besten Elternalter. Auch die Lehrkräfte sind längst noch nicht alle immunisiert. Laut Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, sehe man „sehr viele 40- bis 50-Jährige mit sehr schweren Corona-Verläufen auf den Intensivstationen“. Bei den unter 50-Jährigen sterbe jeder fünfte Covid-Intensivpatient. Bei den Älteren sei es jeder Zweite.
Für den SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach verlieren deshalb „viele Kinder ihre Eltern. Das ist eine Tragödie.“Kinder und Jugendliche würden „zum Zentrum der Pandemie“. Noch nie sei bei ihnen die Inzidenz, also die Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb einer Woche, so hoch gewesen. Tatsächlich schreibt das Robert-KochInstitut (RKI), dass es einen besonders starken Anstieg in jüngeren Altersgruppen gebe. Einmal in der Woche veröffentlicht das RKI die Altersinzidenzen, zuletzt am Dienstag. Bei einer Gesamtinzidenz von 168 betrug die Inzidenz bei den 5- bis 9-Jährigen 224, bei den 10- bis 14-Jährigen 234 und bei den 15- bis 19-Jährigen sogar 260. Viel niedriger liegt der Wert bei den in weiten Teilen geimpften 80- bis 84-Jährigen mit 61.
Ein Grund könnte die englische Mutante B.1.1.7 sein, die in Deutschland
für 90 Prozent der Neuansteckungen verantwortlich ist. Laut einer britischen Analyse hat B.1.1.7 dafür gesorgt, dass Kinder und Jugendliche jetzt einen größeren Anteil an den Gesamtfällen hätten als zuvor, so Sarah Rasmussen von der Universität Cambridge.
Allerdings wird immer auch wieder darauf hingewiesen, dass das Testen, etwa zur Aufrechterhaltung des Schulbetriebs, die Zahl der nachgewiesenen Infektionen nach oben treibt. Die Gesellschaft für Kinderund Jugendmedizin etwa betont, dass die Testhäufigkeit bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen „erheblich zugenommen hat“.
Für die Kinder selbst jedenfalls halten sich die gesundheitlichen Konsequenzen zumeist in Grenzen. So weist die Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie darauf hin, dass von 14 Millionen Kindern und Jugendlichen seit Beginn der Pandemie etwas mehr als 1200 mit einer Corona-Infektion im Krankenhaus behandelt werden mussten, was 0,01 Prozent entspreche. Die Gesellschaft zählt vier Tote, was 0,00002 Prozent aller Kinder und Jugendlichen bedeute. Die KinderInfektiologen meinen denn auch, jeder einzelne Fall eines schwer erkrankten oder verstorbenen Kindes „ist ein Fall zu viel und ein unerträgliches Einzelschicksal für Kind und Familie“. Die Fallzahlen aber sollten „Eltern übergroße Sorgen vor einem schweren Krankheitsverlauf bei ihren Kindern nehmen“.
Schwere Verläufe gibt es nichtsdestotrotz. Eine Folgekrankheit trägt die Abkürzung PIMS. Das ist eine Multi-Entzündungserkrankung, die mit hohem Fieber, Ausschlag, Durchfall und Übelkeit verbunden ist. PIMS tritt vier bis sechs Wochen nach der Infektion auf. Bisher sind 281 Fälle bekannt, betroffen sind in zwei von drei Fällen Jungen. Viele davon mussten auf die Intensivstation, die meisten konnten gesund entlassen werden. An die sieben Prozent aber haben Folgeschäden. Tödliche Verläufe gibt es bisher nicht.
Am sichersten verhindern könnte man die Weitergabe des Virus an Erwachsene durch Kinder und seltene Erkrankungen wie PIMS natürlich durch eine Impfung. Bisher sind die Vakzine jedoch erst für Menschen ab 18 Jahre zugelassen, bei Biontech ab 16 Jahren. Nun aber kündigt Biontech-Chef Ugur Sahin an, dass es schon im Juni erste Impfungen für Kinder von zwölf bis 15 Jahren geben könne. Ab Herbst dürften auch Jüngere immunisiert werden. Moderna-Chef Dan Staner wiederum rechnet damit, dass sein Impfstoff für Teenager im September zugelassen werden kann.
Nötig wäre das wohl noch aus einem anderen Grund: Wahrscheinlich braucht man geimpfte Kinder auch wegen der Herdenimmunität. Während man früher davon ausging, dass es ausreicht, dass 60 Prozent der Bevölkerung geimpft oder von Corona genesen sind, um das Virus auszubremsen, spricht das RKI jetzt davon, dass wegen B.1.1.7 vermutlich 70 bis 80 Prozent nötig sind.