Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Biden umwirbt die Mittelschicht
Der US-Präsident zieht nach 100 Tagen eine erste Bilanz im Amt – Das Tempo bei Hilfspaketen und Reformen hätten ihm viele Amerikaner nicht zugetraut
- Nur einmal erinnert Joe Biden an diesem Abend an Franklin Delano Roosevelt, auf dessen Spuren er wandelt. Es war FDR, der eine Tradition begründete, nach der sich amerikanische Präsidenten bereits nach 100 Tagen im Amt ein erstes Zeugnis ausstellen lassen müssen. Es war FDR, der mit einer Serie ehrgeiziger Staatsprogramme entscheidend dazu beitrug, die Große Depression zu überwinden. Am Mittwochabend dient er Biden, der seine eigene Rolle zu definieren versucht, als historisches Vorbild, um so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu beschwören. „In einer anderen Ära, als unsere Demokratie schon einmal getestet wurde, hat uns Roosevelt daran erinnert: In Amerika tragen wir alle unseren Teil bei.“
Es ist Bidens erster Auftritt vor beiden Kammern des Kongresses. Er nutzt die Gelegenheit, um markanter als bei seiner Vereidigung darzulegen, wie er seinen Job begreift. Er will die zuletzt arg gebeutelten Mittelschichten stärken. Durch Umverteilung,
Subventionen und Investitionen will er verhindern, dass sich Abstiegsängste bewahrheiten. Ein aktiv handelnder Staat soll im Wettlauf mit China unter Beweis stellen, dass die Demokratie funktioniert und wettbewerbsfähig ist. „Die Wall Street hat dieses Land nicht aufgebaut. Die Mittelschicht hat dieses Land aufgebaut.“Es sind die Kernsätze seiner Rede. Es ist der Leitfaden seiner Regierungsphilosophie.
In Autokratien, sagt Biden, sehe man in den Bildern des Mobs, der am 6. Januar das Kapitol stürmte, den Beweis dafür, dass die Sonne über der amerikanischen Demokratie untergehe. Die USA, glaube man, seien zu sehr durch Wut und Spaltung geprägt, als dass sie noch handlungsfähig seien. „Damit liegen sie falsch. Ihr wisst es. Ich weiß es. Aber wir müssen beweisen, dass sie falschliegen.“Dann folgt der optimistische Teil. Er habe eine Nation tief in der Krise übernommen. „Die schlimmste Pandemie seit einem Jahrhundert. Die schlimmste Rezession seit der Großen Depression. Der schlimmste Angriff auf unsere Demokratie seit dem Bürgerkrieg“, sagt Biden. Jetzt aber sei das Land in Bewegung. Das Impfprogramm – die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung ist mittlerweile mindestens einmal gegen das Coronavirus geimpft – zähle zu den größten logistischen Leistungen, die man je vollbracht habe. Joe Biden, der Cheerleader.
Dann ist da noch der Veteran der Politik, der alle verblüfft, weil er ein
Tempo geht, das dem 78-Jährigen kaum einer zugetraut hatte. Als Mann der Empathie und des Kompromisses gewählt, strebt Biden mit überraschender Konsequenz weitreichende Reformen an. Nachdem er im März ein 1,9 Billionen Dollar schweres Corona-Hilfspaket durchs Parlament brachte, wirbt er für ein 2,3-Billionen-Paket zur umweltgerechten Modernisierung der Infrastruktur und skizziert erstmals ein drittes, kaum weniger ambitioniertes Programm. Der „American Families Plan“, beziffert mit 1,8 Billionen Dollar, soll die Kinderbetreuung in einer Weise erschwinglich machen, dass es für amerikanische Verhältnisse revolutionär genannt werden kann. Massive staatliche Zuschüsse sollen die Mittelschicht finanziell entlasten und es auch Geringverdienern ermöglichen, den Nachwuchs in einen Kindergarten zu schicken.
Keine Familie, stellt Biden in Aussicht, soll künftig mehr als sieben Prozent ihres Einkommens für die Betreuung ihrer Kinder ausgeben müssen. Zudem will er zwölf Wochen bezahlten Urlaub nach der Geburt eines Babys durchsetzen. Dreiund Vierjährige sollen mithilfe kostenloser Vorschulprogramme auf das Lernen im Klassenzimmer vorbereitet werden, während Highschool-Absolventen ein Community College besuchen können, wofür sie keinen Cent an Gebühren zu zahlen haben. Finanziert werden soll der Plan, indem die unter Donald Trump beschlossenen Steuersenkungen, von Ausnahmen abgesehen, rückgängig gemacht werden und hier und da noch draufgesattelt wird. Kernstück ist der Vorschlag, Kapitalerträge von Einkommensmillionären genauso hoch zu besteuern wie Löhne, wobei der Spitzensatz künftig bei 39,6 Prozent liegen soll. Als Biden ihn präsentiert, rührt sich bei den Republikanern in den pandemiebedingt nur dünn besetzten Sitzreihen keine Hand zum Applaus. Der Präsident habe versprochen, das Land zu einen, nun spalte er es nur noch mehr, kritisiert der konservative Senator Tim Scott. Mitt Romney, einer der wenigen Republikaner, die Trump die Stirn boten, spricht von einem Präsidenten, der wie ein Verrückter Geld ausgebe.
Biden dagegen appelliert an das Gerechtigkeitsgefühl. Es sei höchste Zeit, dass Unternehmen und die wohlhabendsten Amerikaner einen angemessenen Teil der Steuerlast tragen. Bestrafen wolle er keinen, er habe nichts gegen Milliardäre, nur dies: „Zahlen Sie einfach einen fairen Anteil.“