Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Ein Kaiser im Zwielicht
Vor 200 Jahren starb Napoleon – Beim Elchinger Kloster unweit von Ulm lässt sich die Spur des sogar in seiner französischen Heimat umstrittenen Herrschers aufnehmen
- Ein Besuch der ehemaligen benediktinischen Klosterkirche auf dem Elchinger Höhenzug nordöstlich von Ulm lohnt sich: Architektur des Rokoko und frühen Klassizismus, grandiose Aussichten von der Donau über das ganze Voralpenland hinweg bis zu fernen Berggipfeln. Und wer große Geschichte mag, darf sich mit Napoleon Bonaparte auseinandersetzen, dem umstrittenen französischen Herrscher, der am 5. Mai vor 200 Jahren als Verbannter auf der südatlantischen Insel Helena starb.
Ein Loch in einem Holzschrank des Kirchenchors dient als erste Spur. Es ist die Hinterlassenschaft einer Kanonenkugel, die bei der Schlacht von Elchingen am 14. Oktober 1805 von napoleonischen Artilleristen abgefeuert wurde. „Ja, da hinten ist der Schrank“, weist eine mit Altarschmuck beschäftigte Kirchenhelferin die Richtung.
Den Franzosen standen bei Elchingen Truppen des österreichischen Habsburger Reiches gegenüber. Diese saßen unter anderem auf dem Klosterberg. Ihre französischen Gegner stürmten ihn, nachdem sie sich über eine Donaubrücke vorgekämpft hatten. Napoleon konnte seinen nächsten Erfolg feiern. Einige Tausend Tote blieben bei Elchingen zurück, irgendwo verscharrt, sofern sie „nicht die Donau verschlang“, wie in einem zeitgenössischen Bericht steht. Der ein Jahr zuvor im Alter von 35 Jahren durch eine Selbstkrönung zum Kaiser aufgestiegene Sieger zog weiter. Elchingen war dabei für ihn eine entscheidende Etappe auf dem Weg zum unumstrittenen Herren des kontinentalen Europas.
Einige Wochen später erreichte der gebürtige Korse schließlich den Gipfel seiner Macht. Mit Napoleons Kriegsruhm wuchs ebenso Frankreich zu nie gekannter Größe heran. Dies macht ihn bis heute zum Helden französischer Patrioten. Der für Gloire und Grandeur sehr empfängliche Präsident Emmanuel Macron hat deshalb mehrfach deutlich gemacht, Napoleon an dessen Todestag ausdrücklich zu ehren. Eine Idee, die in seinem Land jedoch nicht alle goutieren. Im Gegenteil: Sie hat zu harschen Auseinandersetzungen geführt. Kritiker verdammen Napoleon regelrecht.
Ungeheuer, Menschenfresser, Rassist, Frauenfeind, Tyrann, Vorläufer von Adolf Hitler: So liest sich eine kurze Liste mit Bezeichnungen, die ihn abqualifizieren. Einige der Schimpfworte waren schon zu seinen Lebzeiten gängig, etwa Menschenfresser wegen der vielen Toten in den zahllosen Feldzügen. Andere sind jüngeren Datums. Dass dabei Napoleon immer mehr ins Zwielicht gerät, führt mancher Historiker auf den modernen Zeitgeist zurück. Er würde eben diktatorische Kriegsheroen nicht mehr mögen, heißt es beispielsweise in einem Aufsatz der Wochenzeitung „Zeit“.
Einst baute man Menschen wie ihm eher große Denkmäler. Napoleons Grabstätte im Pariser Invalidendom ist eines davon. Bemerkenswert im Zusammenhang mit seiner Person: Es gab auch Vertreter der Gegenseite, der Eroberten, die ihn bewunderten – etwa als einen strahlenden Wiedergänger des antiken Schlachtengenies Alexander. „Außerordentliche Menschen, wie Napoleon, treten aus der Moralität heraus. Sie wirken zuletzt wie physische Ursachen, wie Feuer und Wasser“, schrieb der deutsche Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe, ein Zeitgenosse des Kaisers.
Bei Napoleon scheint es einen ständigen Wechsel der Gefühle zu geben. So staunt man beim Besuch der Elchinger Abtei, dass es eine
Napoleonhöhe gibt. Vor der Kirche lädt eine Infotafel Touristen zu einer Napoleontour ein. Am Rathaus, dem einstigen Torbau des Klosters, hängt eine Gedenktafel für die Armee des Kaisers. Gestiftet wurde sie von Napoleonfans aus dem nordfranzösischen Amiens. Zusätzlich wurde eine Straße in Elchingen nach Michel Ney benannt. Er war einer der fähigsten Marschälle Napoleons und hat für ihn die örtliche Schlacht gewonnen. Im Zusammenhang mit ihm existiert auch das „Ney-Loch“, eine Bresche, geschossen während des Sturms aufs Kloster.
Bei Donauwörth, gut 70 Kilometer von Elchingen entfernt, lässt sich wiederum ein Napoleon-Stein finden. Von jener Stelle aus hat der Feldherr angeblich im Vorfeld der Schlacht den Übergang seiner Truppen über den Lech beäugt, ein Manöver, das dem geschickten Einkreisen der Österreicher diente. In der Tat gehört Napoleon zu den begabteren Feldherrn der Geschichte. Wobei er ungehemmt wie römische Caesaren bereit war, sich selber zu feiern – siehe den Triumphbogen in Paris, 1806 auf seinen Befehl hin begonnen. Zahllose Siege sind darauf verzeichnet – auch jener von Elchingen.
Wer aber Feldzüge nur als sinnlose Gemetzel betrachtet, bekommt sofort ein Problem mit Napoleon – zumal abseits des Waffenglanzes der Blick auf weitere Seiten des Empereurs frei wird. Sehr dezidiert hat sich hierzu zuletzt der französische Geschichtswissenschaftler Alexis Corbière geäußert: „Die Republik kann jemanden nicht offiziell ehren, der ihr Totengräber war, indem er die erste republikanische Erfahrung unserer Geschichte beendete, um ein autoritäres Regime zu errichten.“Ein Hinweis darauf, dass Napoleon die nach der französischen Revolution von 1789 entstandenen demokratischen Regungen rasch annullierte, als er ab 1799 ausreichend Macht dazu gewonnen hatte.
Nun ist Corbière nicht nur Historiker, sondern ebenso linker Abgeordneter der französischen Nationalversammlung. Mit dem verbalen Hieb gegen Napoleon versucht er gleichzeitig dessen Verehrer Präsident Macron zu treffen. Aber selbst aus der Regierung kommen kritische Worte. So kanzelt Gleichstellungsministerin Elisabeth Moreno Napoleon als „einen der größten Frauenfeinde“und „Wiederhersteller der Sklaverei“ab – Vorwürfe, die auf napoleonischer Gesetzgebung beruhen.
So sollte die Sklaverei in den Kolonien nach der Revolution eigentlich abgeschafft werden. 1802 und 1805 wurde unter Napoleon aber deren Weiterbestand verfügt. Gleichzeitig sah der von ihm genehmigte Code Civil zur Regelung des Zivilrechts Einschränkungen bei der Stellung der Frauen vor. Sie sollten definitiv dem Manne untertan sein. Der amerikanisch-polnische Historiker Adam Zamoyski meint in seiner jüngst erschienenen Napoleon-Biografie, diese Regelung sei teilweise dem Einfluss des Herrschers geschuldet. Angeblich versteckte sich dahinter die kaiserliche Enttäuschung über die Untreue seiner ersten Gemahlin Josephine de Beauharnais.
Aus der damaligen Zeit heraus betrachtet waren solche Regelungen jedoch unauffällig. Sklaverei hatte noch eine weite Verbreitung. Von den USA wurde sie erst 1863 abgeschafft. Und Frauenrechte waren nichts, was die männerdominierte Welt für sonderlich relevant gehalten hätte. Nebenbei erwähnt: In dem südlich des Bodensees gelegenen Schweizer Kanton Appenzell-Innerrhoden wurde es 1990, bis Frauen auf kantonaler Ebene wählen durften. Hochproblematisch wäre es also aus historischer Sicht, Napoleons gesetzgeberisches Werk mit heutigen Maßstäben zu messen.
Im Zentrum seines zivilen Schaffens steht der erwähnte Code Civil.
Mit ihm wurde ein Schlussstrich unter ein teilweise mittelalterlich anmutendes Rechtswirrwarr gezogen. Weshalb er als eines der wichtigsten Gesetzeswerke der Neuzeit gilt. Bei seinen Eroberungen hat ihn Napoleon weit in Europa verbreitet. In Deutschland kann der Code Civil als Vorläufer des Bürgerlichen Gesetzbuches gesehen werden. Fast schon folgerichtig schlägt dazu der liberale französische Alt-Historiker Pierre Nora vor, nur „dem Reformer Napoleon“zu gedenken, aber nicht dem Kriegsherrn.
Mag sein, dass sich dies in Frankreich sogar ein Stück weit trennen lässt – zumal er dort auch noch die Grundlage für die moderne Staatsstruktur der Nation geschaffen hat. Aber in den Nachbarländern? In sie kam Napoleon mit Gewalt und Heeresstärke. Die Opfer waren daran jedoch nicht immer unschuldig. Ständig bildeten sich neue Kriegskoalitionen gegen Frankreich. Diese hatten jedoch die Motivation, Napoleons Vorherrschaft in Europa zu brechen. Er hingegen wollte Hegemon bleiben. Darauf beruht auch der Feldzug 1805 mit der Schlachtenstation Elchingen. Es galt in erster Linie, die Österreicher zur Räson zu bringen. Der klassische Einfallsweg von Frankreich Richtung Wien führte dabei über die Donauregion zwischen Ulm und Donauwörth, eine traditionell schlachtengewohnte Gegend.
Am Vorabend des Elchinger Zusammenpralls hatte der Kaiser Quartier in Pfaffenhofen südlich von Ulm genommen, ein Umstand, an den sich die sonst unauffällige Marktgemeinde heute gerne erinnert. Seinerzeit war es anders. „O du armes Vaterland“, klagte Stadtpfarrer Franz Xaver Amberger über die Franzosendurchzüge. Pfaffenhofen war Napoleon aber schnell wieder los. Er wechselte hinüber zum Kloster in Oberelchingen, blieb dort sieben Tage lang in einem später abgerissenen repräsentativen Bau. Seine Soldaten machten indes die Kirche zum Pferdestall. Sie plünderten, was nicht niet- und nagelfest war, „erbrachen die Türen, zerschlugen und zerstörten alles, was ihr Auge sah“, lautet ein Augenzeugenbericht.
Solche Ausschreitungen waren Kriegsgewohnheit – und damit nichts, was den Kaiser fesselte. Zumal er seinen Sieg noch vollständig machen musste: Die geschlagenen Österreicher hatten sich nämlich nach Ulm zurückgezogen und dort verschanzt. Eine Chance bot sich ihnen aber nicht mehr. Sie befanden sich isoliert inmitten von Feindesland. Etwas, das wiederum mit den Umwälzungen durch Napoleon zu tun hat: Infolge seiner Politik verschwand die extreme deutsche Kleinstaaterei.
Betroffen waren über 300 seit dem Mittelalter entstandene Ländlein, beispielsweise Reichsstädte und Klosterherrschaften. Übrig blieben die damaligen deutschen Großmächte Österreich und Preußen sowie einige Dutzend Mittelstaaten: ironischerweise eine Voraussetzung dafür, dass 1871 ein neues deutsches Reich entstehen konnte. Zugleich weckten die dauernden französischen Heerzüge, Besatzungen und Verwüstungen das deutsche Nationalgefühl, verbunden mit einem Franzosenhass.
Weder das eine noch das andere war natürlich Napoleons Absicht. So dachte er bei seiner Förderung der deutschen Mittelstaaten an Gebilde, die stark genug sein sollten, um als Vasallen Frankreichs Macht zu stärken. Gleichzeitig ließ sie Napoleon so schwach, dass von ihnen keine Gefährdung seiner Stellung ausgehen konnte. Von besonderem Interesse waren für ihn dabei Baden, Württemberg und Bayern. Sie sollten einen Puffer zu Österreich hin bilden.
Alle drei Länder wurden zu Napoleons Zeiten immer größer. Auf dem Weg nach Elchingen hatte der Kaiser noch einen Zwischenstopp im Ludwigsburger Schloss gemacht. „Unter dem Donnern der Kanonen und Läutung aller Glocken der Stadt“wurde er laut Hofdiarium empfangen. Sein Angebot an den württembergischen Herzog Friedrich II.: Bei einem Anschluss an Frankreich könne er zum König aufsteigen. Der als außerordentlich beleibt bekannte Friedrich ließ sich ganz eigennützig die Chance nicht entgehen. Sein Münchner Kollege, Kurfürst Max Joseph, hatte inzwischen von französischen Gesandten denselben Vorschlag erhalten. Er war ebenso angetan. Für die in Ulm eingeschlossenen Österreicher bedeutete dies: Überall waren Gegner.
Ihr Anführer, Feldmarschallleutnant Karl Mack, kapitulierte mit rund 25 000 Mann. Am 22. Oktober überwachte Napoleon die Waffenübergabe in den Donauniederungen. Auf ihn wartete nun einer seiner größten Siege: jener in der Schlacht beim mährischen Austerlitz am 2. Dezember 1805. Napoleon schlug dort neben den Österreichern auch die mit ihnen verbündeten Russen. Erneut konnte der Kaiser einen Frieden diktieren. Dauerhaft war er aber nicht. Das Schlachtengetümmel hielt an, bis eine europäische Koalition Napoleon 1815 im belgischen Waterloo niederrang. Von dort führte sein Weg auf die englische Insel Helena in die Verbannung.
Elchingen hatte er nie wieder gestreift. Nur 1809 war er auf einem weiteren Feldzug gegen das österreichische Habsburger Reich nochmals in die Nähe gekommen: einmal mehr nach Donauwörth, wo der Kaiser am 16. April nächtigte. Steht man nun oben am Elchinger Kloster, lässt sich aber durchaus sinnieren, was Napoleon gebracht hat. Unbestritten viel Schlachtengetümmel. Es ist längst verklungen. Was rauscht sind nur der Verkehr vom Elchinger Autobahnkreuz. Und wo einst rund um die Klostermauer gestorben wurde, wächst auf friedlichen Feldern gerade die neue Saat heran.