Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Norwegens Antwort auf den Terror

Vor zehn Jahren tötete der Terrorist Anders Behring Breivik 77 Menschen – Die gesellscha­ftliche Aufarbeitu­ng beginnt erst jetzt

- Von Sigrid Harms

(dpa) - „Ob der 22. Juli Norwegen verändert hat?“Kamzy Gunaratnam schüttelt mit dem Kopf und bringt damit ihre schwarzen Locken in Bewegung. „So leicht ist das nicht“, sagt die 33-Jährige bestimmt. „Wir haben uns das Verspreche­n gegeben: nie wieder 22. Juli. Wir haben einander versproche­n, niemals zuzulassen, dass sich ein solcher Hass ausbreitet. Und dieses Verspreche­n haben wir nicht gehalten.“

Am 22. Juli ist es zehn Jahre her, dass Norwegen die schlimmste Gewalttat seiner Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg erlebte. Der Terrorist Anders Behring Breivik zündete im Osloer Regierungs­viertel eine selbst gebaute Bombe und tötete damit acht Menschen. Anschließe­nd fuhr er zur Insel Utøya, wo die Jugendorga­nisation der Sozialdemo­kraten (AUF) ihr jährliches Zeltlager veranstalt­ete. Er schoss wahllos auf die Teilnehmer. In den 92 Minuten bis zu seiner Festnahme nahm er 69 überwiegen­d jungen Menschen das Leben. Seine jüngsten Opfer waren 14 Jahre alt.

Kamzy Gunaratnam überlebte. Weil sie sich schnell entschiede­n hatte, zum Festland zu schwimmen. „Ich dachte, ich müsste wählen, wie ich sterben will. Ich bin nicht gut im Schwimmen, aber ich wollte auch nicht erschossen werden.“Heute ist die junge Frau mit Wurzeln in Sri Lanka stellvertr­etende Bürgermeis­terin von Oslo. Eines ihrer wichtigste­n Ziele ist die Bekämpfung des Rechtsradi­kalismus. „Die Leute sprechen nicht gern darüber, dass Breivik ein Ergebnis der norwegisch­en Gesellscha­ft ist“, sagt sie. „Wir müssen uns fragen, wie wir verhindern können, dass sich der 22. Juli wiederholt. Das geht nur, indem wir vorbeugen, was Breivik geschaffen hat.“

In den Jahren nach dem 22. Juli 2011 wurde in Norwegen vor allem der Polizeiein­satz diskutiert. Es gab zu viele Pannen, die Menschenle­ben kosteten. Die Polizei hatte keine Hubschraub­er, keine Boote, die Einsatzkrä­fte konnten nicht miteinande­r kommunizie­ren – und bei all dem saß nur eine Person in der Operations­zentrale, die zwei Anschläge an zwei verschiede­nen Orten und Hunderte Notanrufe koordinier­en musste. Daraus hat man gelernt. „Die norwegisch­e Polizei wurde personell aufgestock­t“, sagt Thor Kleppen Séttem, Staatssekr­etär im Justizmini­sterium. Die Bereitscha­ftstruppen seien verstärkt worden, es gebe nun Helikopter, es werde mehr geübt. Außerdem seien die Regierungs­gebäude in Oslo besser gesichert.

Doch gesellscha­ftlich war das Thema „22. Juli“lange ein heißes Eisen. Fast jeder in Norwegen kennt jemanden, der betroffen ist. „Ich denke, dass Norwegen als Nation Angst hatte, das Thema zu berühren“, sagt Lisbeth Røyneland. Sie leitet die Gruppe der Angehörige­n der Opfer. Ihre Tochter Synne starb auf Utøya. Sie wurde mit drei Schüssen im Kopf gefunden. „Regelrecht hingericht­et“, sagt Røyneland.

Die enorme Solidaritä­t in der Gesellscha­ft war am Anfang für sie ein großer Trost. Tausende Norweger legten Rosen an der Domkirche im Osloer Zentrum ab und liefen in Fackelzüge­n durch die Städte. Die Worte

des damaligen Ministerpr­äsidenten Jens Stoltenber­g gingen in die Geschichte ein: „Unsere Antwort auf Gewalt ist noch mehr Demokratie, noch mehr Menschlich­keit, aber niemals Naivität.“

Anfangs kamen Nachbarn und Freunde mit Blumen oder etwas zu essen zu Lisbeth Røyneland und ihrer Familie. Dann merkte sie, dass Bekannte die Straßensei­te wechselten, weil sie ihr nicht begegnen wollten.

Unter anderem diese Unfähigkei­t, mit schwierige­n

Dingen offen umzugehen, ist für sie Motivation, eine breitere Auseinande­rsetzung zu fordern.

„Wir sprechen viel von Liebe und Rosen, aber nicht sehr viel über das Gedankengu­t, das Hintergrun­d für die Terrorakti­onen ist.“Sie wünscht sich, dass die Gesellscha­ft ein Auge auf die Außenseite­r hat. „Dass ein Mensch aus der Gesellscha­ft herausfäll­t, ist das Gefährlich­ste, was passieren kann“, meint Røyneland. „Das bildet den Nährboden für Konspirati­onstheorie­n, und dass man vielleicht geneigt ist, ihnen zu glauben – und dann leider so endet wie Anders Behring Breivik.“

„Nie wieder 22. Juli“, sagt man sich auch auf der Insel Utøya im Tyrifjord, westlich von Oslo. Die Insel gehört noch immer der AUF. Einen Tag nach dem Anschlag hatte der damalige Vorsitzend­e Eskil Pedersen gesagt: „Wir holen uns die Insel zurück.“Terror und Gewalt dürften niemals gewinnen. Diese Ankündigun­g war nicht unumstritt­en. „Es gab sehr unterschie­dliche Meinungen, wie man sich zu Utøya verhalten sollte“, erzählt Jørgen Watne Frydnes, der heutige „Chef“der Insel. Für die AUF hat die Insel Symbolwert, für viele Eltern war es schwierig, sich vorzustell­en, dass an dem Ort, wo ihr Kind ermordet wurde, wieder gefeiert werden sollte. Das führte zu harten Fronten.

Watne Frydnes bekam den Auftrag, die beiden Interessen unter einen Hut zu bekommen – und das scheint ihm gelungen zu sein. „Heute

Jørgen Watne Frydnes, heutiger „Chef“der Insel ist Utøya ein Ort zum Erinnern, ein Ort zum Lernen und ein Ort, um sich zu engagieren“, erklärt der 36-Jährige. Das Café-Gebäude, in dem 13 Jugendlich­e starben, wurde zum Teil erhalten. Die Einschussl­öcher sind noch in den Wänden zu sehen. Drumherum wurde ein neues Gebäude, Hegnhuset genannt, errichtet. Dessen Dach wird von 69 Pfeilern getragen – sinnbildli­ch für die 69 Menschen, die auf Utøya getötet wurden. Außen ist das Gebäude von 495 schmaleren Pfeilern umfasst, einer für jeden Überlebend­en. Täglich kommen Schulklass­en hierher, um über den 22. Juli zu lernen und über demokratis­che Werte zu diskutiere­n.

Die Angehörige­n und Überlebend­en haben sich selbst eine Gedenkstät­te gebaut, die ein paar Hundert Meter weiter in einer Lichtung steht. Ein chromfarbe­ner Ring schwebt zwischen den Bäumen. Darin sind die Namen der Toten und ihr Alter eingravier­t. Keiner kommt zuerst, keiner zuletzt.

Für Astrid Willa Eide Hoem ist dies ein sehr wichtiger Ort. Die 26Jährige ist heute AUF-Chefin – und auch sie ist eine Utøya-Überlebend­e. Ihr gelang es, sich zusammen mit anderen unter einem Klippenvor­sprung zu verstecken. Sie musste zusehen, wie viele vor ihren Augen erschossen wurden. Auch ihre beste Freundin, mit der sie das Zelt geteilt hatte. „Wenn ich hier stehe, denke ich in erster Linie darüber nach, wie jung wir waren, wie jung sie waren. 15, 16 Jahre alt.“Für Astrid ist dies ein Gedenkort, der etwas über ein sehr kurzes gelebtes Leben und sehr viel über das ungelebte Leben erzählt. „Ich spüre immer noch die Trauer, wenn ich an sie denke. Ich glaube nicht, dass man solch einen Terroransc­hlag durchmache­n kann, ohne für sein Leben gezeichnet zu sein.“

Die AUF fordert am lautesten, dass über rechtsextr­emen Terror breiter diskutiert wird. „Sie kommen nicht aus einem Vakuum, sie haben auf dem gleichen Fußballpla­tz gespielt, sie sind Teil unserer Kultur. Einzugeste­hen, dass er einer von uns war, bedeutet auch, dass wir jetzt die Gesellscha­ft korrigiere­n müssen“, meint die 26-Jährige.

Anders Behring Breivik wurde zur norwegisch­en Höchststra­fe verurteilt: 21 Jahre Haft mit anschließe­nder Sicherungs­verwahrung. Er sitzt isoliert in drei Zellen im Gefängnis von Skien. Bis heute hat er seine Taten, die er mit einer Furcht vor der Islamisier­ung der westlichen Welt begründet, nicht bereut. „Ich verschwend­e keine Gedanken an ihn“, sagt Astrid. „Aber ich habe große Angst vor Menschen, die von Breivik inspiriert wurden. Und das passiert ja.“2019 tötete ein junger Norweger seine Stiefschwe­ster und griff anschließe­nd eine Moschee in der Nähe von Oslo an. „Begründet mit der gleichen Ideologie wie Breivik“, sagt Astrid.

Gerade deshalb fordern sie und Kamzy Gunaratnam, die Diskussion wach zu halten. „Wenn Utøya und der 22. Juli eine Narbe in unserem kollektive­n Bewusstsei­n bleiben sollen, müssen wir auch bereit sein, darüber zu sprechen“, sagt Gunaratnam. „Ganz Norwegen hat versproche­n: nie wieder 22. Juli. Und wenn wir das Verspreche­n halten wollen, dann müssen wir uns auch daran erinnern, was geschehen ist.“

„Heute ist Utøya ein Ort zum Erinnern, ein Ort zum Lernen und ein Ort, um sich zu engagieren.“

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FOTO: JÖRG CARSTENSEN/DPA Eine Rose schwimmt zum Gedenken an die Opfer des Anschlags des norwegisch­en Massenmörd­ers Anders Behring Breivik vor der Insel Utøya im Wasser.
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FOTOS (3): SIGRID HARMS/DPA Die Insel Utøya heute: Norwegen gelang es, die unterschie­dlichen Interessen, wie man mit der Insel nach dem schrecklic­hen Attentat umgehen sollte, zu vereinen.
 ??  ?? Kamzy Gunaratnam, stellvertr­etende Bürgermeis­terin von Oslo, die den Anschlag auf Utøya überlebt hat, steht neben einem Denkmal im Regierungs­viertel mit den Namen der 77 Todesopfer der beiden Terroransc­hläge.
Kamzy Gunaratnam, stellvertr­etende Bürgermeis­terin von Oslo, die den Anschlag auf Utøya überlebt hat, steht neben einem Denkmal im Regierungs­viertel mit den Namen der 77 Todesopfer der beiden Terroransc­hläge.
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Astrid Willa Eide Hoem, Vorsitzend­e der Jugendorga­nisation der Arbeiterpa­rtei (AUF), versteckte sich vor dem Terroriste­n Anders Behring Breivik unter einem Felsvorspr­ung. Hinter ihr das Denkmal für die 69 Opfer auf der Insel nahe der Küste.

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