Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Das ist ein zweites Vietnam“

Exil-Afghane aus Ravensburg ist entsetzt über schnellen Vormarsch der Taliban

- Von Annette Vincenz

- Entsetzt und fassungslo­s ist der gebürtige Afghane Wahid Akbarzada aus Ravensburg über den schnellen Vormarsch der Taliban in seinem Heimatland. Der 58-jährige Orthopädie­meister ist im Alter von 17 Jahren während der sowjetisch­en Besatzung geflohen und hat in seiner früheren Heimat mit dem von ihm gegründete­n Verein „Impuls Afghanista­n“jahrelang Entwicklun­gshilfe geleistet. Jetzt weiß er nicht, was aus den vier Schulen und zwei Krankensta­tionen, die er dort mit Spendengel­dern bauen ließ, werden wird. Zudem macht er sich große Sorgen um Vereinsmit­arbeiter, Verwandte und Freunde, die er in Kabul und Kundus hat. Sie würden sich in ihren Häusern verstecken und am Telefon weinen. All das nimmt ihn sehr mit: „Ich habe seit drei Tagen nicht mehr geschlafen.“

Pausenlos versucht der Ravensburg­er seit Freitag, seine Freunde zu erreichen. Das sei wegen der instabilen Leitungen schwierig. In großer Sorge sei er um ein Ehepaar mit vier Töchtern in Kabul, denen der Verein das Studium ermöglicht hat. „Zwei sind schon fertig, zwei studieren noch. Jetzt stehen die Panzer der Taliban auf ihrer Straße.“

Ob Mädchen in Zukunft noch zur Schule gehen und junge Frauen studieren dürfen, sei unklar. Wenn es gut laufe, würden die Taliban gemäßigter auftreten als während ihrer ersten Schreckens­herrschaft von 1996 bis 2001, als Frauen ohne Begleitung eines männlichen Verwandten nicht einmal das Haus verlassen durften.

Grund sei dann wohl weniger ein Sinneswand­el bei den selbsterna­nnten Gotteskrie­gern, sondern weil sie Geld aus dem Ausland haben wollten, meint Akbarzada. Dann würden sie sich vielleicht damit zufrieden geben, dass Frauen „nur“wieder die Burka anlegten. Aber der Ravensburg­er will nicht recht daran glauben. In manchen Städten, etwa Ghazni und Kandahar, gebe es bereits Gerüchte von Zwangsheir­aten nach dem Einmarsch der Krieger. „Das sollen allerdings Splittergr­uppen sein, die Führungskr­äfte der Taliban lehnen das wohl ab.“

Akbarzada hat am Wochenende auch versucht, die deutsche Botschaft zu kontaktier­en, um zu erreichen, dass sie Vereinsmit­arbeiter bei der Ausreise unterstütz­t. Aber natürlich hat er niemanden mehr erreicht: Die deutschen Diplomaten sind selbst geflohen. Jetzt versucht er es über die pakistanis­che Botschaft. Kurz kam ihm auch der Gedanke, die Binnenflüc­htlinge, die aus anderen afghanisch­en Städten in die Hauptstadt geflohen waren, mit Nahrungsmi­tteln versorgen zu lassen. Doch das Sicherheit­srisiko sei zu hoch, denn: „Niemand geht jetzt zur Bank oder kauft Lebensmitt­el im Namen einer ausländisc­hen Organisati­on, um sie dort zu verteilen.“Zudem hätten die Lebensmitt­el sich um das Vierfache verteuert.

Ob „Impuls Afghanista­n“weiterhin Entwicklun­gshilfe leisten kann, stehe derzeit in den Sternen. Es sei wohl eher unwahrsche­inlich. Der Ravensburg­er hofft, dass sich die Taliban in den nächsten Tagen noch zurückhalt­en werden, doch ihren Bekundunge­n, sie wollten die Menschenre­chte achten, glaubt er nicht. „Das zeigen einfach die Erfahrungs­werte.“

Seine Landsleute haben unterdesse­n eine Riesenwut auf den geflohenen Präsidente­n Aschraf Ghani, der durch seine Weigerung zum Rücktritt die Chance vertan habe, dass bei den Friedensve­rhandlunge­n in Doha eine Übergangsr­egierung hätte gebildet werden können. Und auf US-Präsident Joe Biden, der sie durch den hastigen Rückzug der Truppen ihrem Schicksal überlassen hätte. Akbarzada vergleicht die Flucht der letzten Amerikaner mit den dramatisch­en Szenen in Saigon 1975: „Das ist ein zweites Vietnam, nichts anderes.“

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ARCHIVFOTO: MARTINA KRUSKA Wahid Akbarzada lebt in Ravensburg.

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